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Die wichtigsten Tango-Ochester der Epoca de Oro (eine kleine Auswahl)

Geleitwort zu den Biographien    – Europa, hast du es besser ?

Ein Bild mit mehreren  Orchesterleitern – wer erkennt sie?   (Auflösung unten)

»Ich glaube nicht, dass Du weit kommst, wenn du von Beginn an die Vergangenheit verleugnest oder sie ablehnst.
– I do not believe that you can go far if you start by denying or opposing the past.«  (Pablo Veron)

Rodolfo Biagi      Er war der Pianist, der mit seinem Spiel im Orchester von Juan d'Arienzo wichtige Akzente setzte. 1938 gründete er sein eigenes Orchester, wo er sein staccatohaftes Spielen weiter zelebrierte. Sein Kennzeichen sind die vielen unerwarteten Pausen, die wie ein Takt wirken  (weitere Infos → hier).


Miguel Caló         hatte ein sehr gutes Gespür für Talente. Zu seinen Anwerbungen gehörten Pugliese, Orlando Goñi (der später bei Troilo berühmt werden sollte), Horacio Salgan, Osmar Maderna, Domingo Federico, Armando Pontier – ein Who is who der Tango-Geschichte. 1945 brach sein äusserst erfolgreiches »Orquesta de las Estrellas«, das Orchester der Sterne oder Stars, auseinander – Federico, Maderna, Francini und Pontier gründeten eigene Orchester. Caló stellte ein neues Orchester zusammen, das weiterhin erfolgreich war, aber die ganz grosse Klasse der Estrellas hatte es nicht mehr  (weitere Infos → hier).


Francisco Canaro  war ein Tangopionier und ein äusserst geschäftstüchtiger Selfmademan. Niemand hat so viele Schallplattenaufnahmen (bei Odeon) gemacht wie er – er nahm alles auf, was ihm zwischen die Finger kam und war erfolgreich damit. Er hat uns grossartige Milongas geschenkt, seine Valses sind gut, bei den Tangos hat es vor allem in der Frühzeit einiges interessantes. Dennoch wird er nicht zu den 'Grossen Vier' gezählt  (weitere Infos → hier).


Angel d'Agostino stellte sein erstes Orchester 1920 zusammen, das Jazz und Tango spielte und unter anderem bei der Begleitung von Stummfilmen das Geld verdiente. Angel d'Agostino wird meistens mit dem Sänger Angel Vargas in Verbindung gebracht, die beiden hatten eine der längstdauernden Partnerschaften in der Tango-Geschichte – von 1940 bis 1946 nahmen sie zusammen 94 Titel auf. Kein anderes Orchester wurde so eng mit dem Sänger in Verbindung gebracht, und so wurden die beiden in einem Atemzug genannt: d‘Agostino-Vargas. Bald bekamen sie aufgrund ihrer Vornamen die Bezeichnung 'Los dos Angeles – die beiden Engel'. Die Musik wird oft als zurückhaltend und subtil bezeichnet, sie kommt rhythmisch klar, aber eher weich und gefällig daher, der Stil änderte sich über die Jahre kaum  (weitere Infos → hier).


Juan d'Arienzo    Der 'Rey del compas' spielte eine wichtige Rolle in der Erneuerung des Tango; er und sein Orchester schafften es mit ihrer rhythmisch betonten und schnellen Spielweise, die Leute auf die Tanzfläche zu ziehen. D'Arienzo hatte in jener Zeit unheimlichen Erfolg: er war regelmässig im Radio El Mundo zu hören, trat als Hausorchester in einem der renommiertesten Nachtclubs der Stadt, dem Cabaret Chantecler auf, und die Plattenfabrik von RCA Victor in Buenos Aires schaffte es oft über Wochen hinweg nicht, genügend Schellacks zu pressen. Plattenläden verkauften zeitweise nur an Käufer, die bereit waren, gleichzeitig eine weitere Schellackplatte eines anderen Orchesters zu erwerben. Sein Lebenswerk ist beachtlich – er hinterlässt uns mehr als 1000 Aufnahmen. Seltsam – trotz allem hat er heute in Bs As keinen allzu hohen Stellenwert. Beschäftigt man sich näher damit, merkt man bald, dass seine Musik nicht nur gut zum Tanzen ist, sondern dass viele abwechslungsreiche Kostbarkeiten bei d'Arienzo zu finden sind.  (weitere Infos → hier)


Alfredo de Angelis  Seine Musik wird beschrieben als leicht und romantisch. Jedoch ist der Ausdruck leichte, romantische Musik nicht immer als Kompliment zu verstehen. Seine Gegner und Kritiker nannten es recht abschätzig 'Musica de calesita' – Karussell- oder Jahrmarkt-Musik. Für uns Tänzer soll das egal sein. Unüberhörbar hat de Angelis einige bezaubernde Titel eingespielt, die einfach nur schön sind und die ich sehr mag. Das drückte sich auch darin aus, dass er sehr erfolgreich war. Seine Musik war äusserst beliebt, er hatte eine treue Fangemeinde an Radiohörern, und es war leicht für ihn, grosse Tanzsäle zu füllen. In den späteren Jahren wurde de Angelis zunehmend softy bis hin zu schmalzig. Aber da war er offensichtlich nicht alleine, da gab es noch einige andere Orchester  (weitere Infos → hier).  


Julio & Francisco de Caro  Auch wenn die Musik des Orchesters de Caro eher selten an Milongas zu hören ist, so waren die de Caros zu ihrer Zeit äusserst beliebt und sehr einflussreich. Der Vater der Gebrüder de Caro war Leiter der Musikakademie am Teatro Scala de Milano gewesen. Als der Vater hörte, dass seine Söhne, statt klassischer Musik diese seltsame Musik der Unterschicht, den Tango spielen wollten, warf er sie aus dem Elternhaus. Vielleicht wollten die Söhne es ihrem Vater zeigen, dass Tango-Musik so komplex wie klassische Musik sein konnte und wollten den Tango auf ein neues Niveau heben. Die Musiker mussten die komplexen Arrangements (im Vergleich zu anderen Orchester jener Zeit) unheimlich viel üben. Das de Caro-Orchester führte einige neue Spieltechniken ein – spätere Orchester übernahmen sie. Pugliese brachte seine Komposition Recuerdo ein, die das Orchester 1926 aufnahm. Als Pugliese sein eigenes Orchester hatte, erwiderte er das Kompliment mit der Aufnahme verschiedener de Caro-Titel.    


Lucio Demare     ist der Schöpfer von einigen wunderschönen Tangos, z.B. von Solamente ella (aufgenommen auch von Lomuto und di Sarli), aber sein grösster Erfolg war zweifellos das wunderbare Malena. Seinen grössten Hit hat er innerhalb von 15 Minuten in einem Rutsch in einem Café komponiert, ohne das Geringste zu korrigieren, nach einem Text, den er vom Dichter Homéro Manzi erst 10 Tage vorher erhalten hatte. Der Stil von Demare ist nicht leicht zu beschreiben. Er hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem von Caló, meistens wird er als lyrisch und romantisch beschrieben  (weitere Infos → hier).


Carlos di Sarli    Er wird in Buenos Aires zu den 'Grossen Vier' gezählt. Sein Schaffen kann man in drei Hauptperioden einteilen: die höchst interessante Zeit seines Sextetos (-1931); der Neuanfang 1939 mit rhythmisch akzentuierten Stücken; die spätere Zeit, als seine Tangos immer langsamer wurden. Er war einer der Wenigen, der bis zum Ende des Tango-Booms auf hohem Niveau erfolgreich blieb  (weitere Infos → hier).


Edgardo Donato   Die in Europa gerne gespielten, schwungvollen Interpretationen von ›Edgardo Donato y sus Muchachos‹ waren in der Tangoszene von Buenos Aires lange völlig untervertreten. Laut einem Informanten gab es erst ab dem Jahre 2000 eine CD, davor existierte nur eine (!) LP. Eine Besonderheit seines Orchesters: wir hören oft ein Akkordeon neben den üblichen Bandoneons. Und während in den anderen Orchestern meistens männliche Sänger auftraten, hört man bei ihm auch die Sängerin Lita Morales. Über die Gründe des plötzlichen Auseinanderbrechens von Donatos beliebtem Orchester ist nur wenig Verlässliches bekannt. (weitere Infos → hier).

            

Domingo Federico  gehört zu den eher übersehenen Orchestern – zu Unrecht. Er lernte Bandoneon bei seinem Vater, seine Schwester erzählt, dass er an manchen Tagen 14-15 Stunden übte. Während seines Medizinstudiums nahm er weiter Unterricht bei Pedro Maffia und Sebastian Piana. Sein Enthusiasmus für die Tangomusik führte dazu, dass er sein Medizinstudium aufgab und sich ganz dem Tango widmete. Nach verschiedenen Engagements, unter anderem bei di Sarli und Juan Canaro, wurde er von Miguel Caló entdeckt. Eine seiner bekanntesten Kompositionen ist Al compas del corazon. 1943 trennte er sich von Caló und gründete sein eigenes Orchester. Bereits seine erste Schellack-Platte mit Saludos und La Culpa la tuve yo wurde zum Verkaufserfolg  (weitere Infos → hier).


Roberto Firpo  war nach Canaro derjenige Orchesterleiter mit den meisten Aufnahmen (laut M. Lavocah mehr als 2000 Schallplattenaufnahmen, wobei der grössere Teil noch mit der akustischen Aufnahmetechnik gemacht wurde). Seine erste Aufnahme machte er bereits 1913 bei Odeon-Nacional, kurz nachdem er bei einem Wettbewerb einen Preis gewonnen hatte. Zu seinen bekanntesten Kompositionen gehören Alma de bohemio, El amanacer und Fuegos artificiales. Mit Roberto Firpo wurde das Klavier das führende Instrument im Tango. Um 1913 kam der Kontrabass dazu, der das Klavier rhythmisch unterstützte. In der Folge bildete sich das ›Sexteto tipico‹: Klavier, Kontrabass, zwei Geigen und zwei Bandoneons. Diese Entwicklung im Instrumentarium führte dazu, dass die Tango-Ensembles, die früher mit Flöte und Gitarre unterwegs waren, nicht mehr so beweglich waren, weil sie an Orte mit einem Klavier gebunden waren. Der oft angefeindete Tango der Arrabales (Vororte) zog mehr und mehr in die Stadt. Firpo, der in den frühen Zeiten des Tango ein Innovator war mit grossem kommerziellen Erfolg, wurde von den neuen Entwicklungen im Tango überholt. Firpo ist recht selten an den Milongas zu hören. Aber das liegt auch daran, dass die interessanteren Aufnahmen seines Orchesters auf CD selten zu finden sind (die weniger interessanten Quartett-Aufnahmen hingegen schon).



Osvaldo Fresedo   war vom Klang des Bandoneons so angetan, dass er die Wirtschaftsschule verliess, sich ein Bandoneon besorgte, dieses schwierige Instrument erlernen und Tango spielen wollte – zum Entsetzen seines Vaters, der ihn des Hauses verwies. 1919 gründete Fresedo sein erstes eigenes Sextett, er führte in den Tango neue Techniken wie das Staccato-Spiel der Bandoneons oder das gemeinsame Crescendo des Orchesters ein. Bald spielten bei ihm spätere Stars wie Miguel Caló oder Carlos di Sarli. Aber auch Julio de Caro, der später als 'Revolutionär' des Tango betrachtet wurde, spielte nach 1920 in seinem Orchester.  Den meisten Tänzern sind vor allem die melodiösen Tangos ab 1933, wie Vida mia oder Cordobesita, bekannt. Fresedo war einer der ersten mit einem klar melodiebetonten, weichen Stil. Viele Orchester von 1933-34 spielten weiterhin den rhythmusbetonten, härteren Stil. Erst ein paar Jahre später folgten andere Orchester, die die Melodie in den Vordergrund stellten. Jedoch finde ich auch seine früheren Aufnahmen vor 1933 mit 'Kraft und Biss' im härteren Rhythmus äusserst interessant  (weitere Infos → hier).

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Pedro Laurenz    hatte seine erste Bewährungsprobe im Orchester von de Caro, als er neben seinem grossen Idol, dem Bandoneonisten Pedro Maffia spielen sollte. Von de Caro bekam er den Künstlernamen Laurenz verpasst. Später, als Maffia de Caro verliess, wurde er erster Bandoneonist und blieb bis 1934, danach stellte Laurenz sein eigenes Orchester zusammen. In jener Zeit war d’Arienzo auf der Höhe seines Ruhmes und beherrschte das Feld, Carlos di Sarli war immer noch ausserhalb von Buenos Aires im Exil, weder Troilo noch Pugliese waren auf der Tangobühne erschienen. Zu diesem Zeitpunkt, im September 1937, veröffentlichte Pedro Laurenz seine erste Aufnahme Arrabal. Sie war so einfallsreich und originell und zeigte dem Tango eine neue, kreative Richtung  (weitere Infos → hier).


Francisco Lomuto      wurde in eine Musikerfamilie hinein geboren, 1920 trat Lomuto dem Orchester von Francisco Canaro bei. Bei Lomuto gibt es offensichtlich einige Ähnlichkeiten zum Stil von Canaro, bei dem er gelernt hatte. Und so verwundert es nicht, dass manche Tänzer Schwierigkeiten haben, die beiden Orchester zu unterscheiden. Canaro und Lomuto waren Freunde und blieben es, beide Orchester nahmen oft den gleichen Tango kurz hintereinander auf, aber die Aufnahmen der gleichen Tangos (z.B. Soy un Arlequin 1929) entstanden nicht in harter Konkurrenz. In den 40er Jahren wurde Lomuto erkennbar melodiöser und weicher. Quiero verte una vez mas 1940 war der erste grosse Hit im melodiösen Stil  (weitere Infos → hier).


Osmar Maderna  war der ausgezeichnete Pianist in Calós »Orquesta de las Estrellas«, dem 'Orchester der Sterne oder Stars'. Zeitgenossen bezeichneten ihn als 'Chopin des Tango'. Er gründete 1946 erfolgreich ein eigenes, vielversprechendes Orchester – eines, das meiner Meinung immer noch zu wenig Beachtung findet. Seine Karriere endete abrupt, er starb 1951, erst 33 Jahre alt, in seinem Sportflugzeug, als er mit einem anderen Flugzeug zusammenkrachte  (weitere Infos → hier).


OT Brunswick  Das Orquesta Tipica Brunswick war eines der Schallplatten-Hausorchester, das nicht öffentlich auftrat und von 1929-1932 Aufnahmen machte. Es wurde geleitet von niemand Geringerem als Pedro Maffia, und nach ihm von Juan Polito. Das Brunswick-Label verschwand in der Folge der Weltwirtschaftskrise 1932, wie manch andere Schallplattenfirma, vom argentinischen Markt  (weitere Infos → hier).


OT Victor       Das Orquesta Tipica Victor war das Studio-Orchester des Victor-Schallplattenlabels. Das Besondere an diesem Orchester war, dass das Orchester nicht öffentlich auftrat, es spielte nur im Aufnahmestudio, und es hatte keine feste Leitung, so wie bei anderen Orchestern, mit dem es identifiziert werden konnte. Auch die Belegschaft war nicht fest, sondern variierte. Zwei Namen werden vor allem mit dem OT Victor in Verbindung gebracht: Luis Petrucelli und Adolfo Carabelli  (weitere Infos → hier).


Osvaldo Pugliese  Meister Pugliese wird in Buenos Aires zu den 'Grossen Vier' gezählt. Von Osvaldos Vater weiss man, dass er viele wichtige Persönlichkeiten des Tango kannte. Mit 15 Jahren spielte Osvaldo Pugliese bereits Klavier und machte später Station in den Orchestern von Roberto Firpo, de Caro, Pedro Maffia, Pedro Laurenz und Miguel Caló, bis er 1939 sein eigenes Orchester gründete. Bis zu seiner ersten Schallplattenaufnahme dauert es bis 1943. Als bekennender Kommunist wurde er von den Machthabern immer wieder ins Gefängnis gesteckt, aber seine grosse Beliebtheit beschützte ihn vor Schlimmeren. Mir gefallen vor allem seine frühen Werke mit ihrer Innigkeit. Pugliese und seine Musiker erlebten die Hochzeit des Tango, die Zeit der Bekämpfung durch die Obrigkeit und die Zeit des Niedergangs, aber auch die wundersame Auferstehung des argentinischen Tango in der Welt nach 1980. (weitere Infos → hier).


Enrique Rodriguez  startete als Bandoneonist, spielte aber auch Klavier und Violine. Frühe Stationen seiner Musikerkarriere waren u.a. Juan Maglio und Edgardo Donato, wo er aber nur kurze Zeit blieb. Aber offensichtlich wurde er von dessen Stil beeinflusst. Nach Auftritten am Radio, wo er unter anderem den Sänger Francisco Fiorentino begleitete, gründete er 1936 sein eigenes Orchester mit dem Namen 'La orquesta de todos los ritmos'. Bereits 1937 bekam er einen Schallplattenvertrag bei Odeon. Dort blieb er für 34 Jahre und machte über 350 Aufnahmen  (weitere Infos → hier).


Ricardo Tanturi   Tanturi erlebte Ähnliches wie Troilo – er konnte 1937 und 38 nur 2 Schallplatten bei Odeon aufnehmen. Als der Knebelvertrag auslief, wechselte er zu RCA Victor. In den Jahren 1941-1943 startete Tanturi durch und wurde sehr populär, unter anderem auch wegen seines Sängers mit der prägnanten Stimme: Alberto Castillo. Als Castillo ihn Mitte 1943 verliess, um eigene Wege zu gehen, fand Tanturi in Enrique Campos einen neuen Sänger mit einem starken Charakter, der, wie sich herausstellte, noch besser zum Orchester passte  (weitere Infos → hier).


Anibal Troilo, dessen Aufnahmen bei keiner Milonga fehlen sollten, gründete den Kern seines Orchesters um 1937. Im März 1938 machte Troilo zwei glänzende Aufnahmen: Tinta verde und Comme il faut, die in ihrer Art in eine neue Zeit wiesen. Schaut man in die Aufnahmeliste von Troilo an, dann sieht man verwundert, dass die nächsten Aufnahmen erst 1941 eingespielt wurden. Warum drei Jahre keine Aufnahmen nach so einem vielversprechenden Start? – Odeon hatte in jener Zeit die üble Taktik, Künstler unter Vertrag zu nehmen, nur damit sie nicht bei der Konkurrenz unterschrieben... Über Troilo müsste man seitenlang schreiben – zum Beispiel über die perfektionierte Kunst, wie er den Rhythmus einsetzte und mit seinem Sänger Francisco Fiorentino Melodie und Gesang verband.  (weitere Infos → hier).



Michael KI, im Juni 2020


Zum Bild mit den Orchesterleitern (v.l.n.r):
Edgardo Donato; Carlos di Sarli; unbekannt; Anibal Troilo; Julio de Caro; Osvaldo Fresedo; Ricardo Tanturi; unbekannt; unbekannt.


Ein Geleitwort zu den Musikerbiografien

Musik zu beschreiben ist schwer. Es fehlt uns irgendwie der richtige Wortschatz. In einem Gespräch sagte ein bekannter (Jazz-) Musiker, dass es keine Musiksprache gibt, sondern dass wir immer mit Vergleichen arbeiten müssen. Zudem ist Musik etwas Subjektives. Aber auch wenn es nicht leicht ist, so wollen wir es trotzdem versuchen und auf diese und jene Besonderheit und Charakteristik hinweisen.

Aus einer Besprechung (bei der mir trotz der vielen Worte einiges unverständlich bleibt): »Denn indem die Bandoneons und Geigen in fein arrangierten Mustern aus der Instrumentalgruppe ein- und aussteigen, filigrane Akzente setzen, winzigkleine Soli unterjubeln, gemeinsam verzögern oder dynamische Wellen gestalten, erzählen sie mit knappsten Mitteln in luftiger Musikalität das Wesen dieser Komposition.«   **

Nach längerem Kopfkratzen und vielen Mutmassungen würde ich doch noch gerne wissen, was denn ›winzig kleine Soli‹ sein sollen…? Oder wie Instrumente wie Bandoneon und Geige 'aus der Instrumentalgruppe aussteigen’ können? Da ich nicht die ausgefallene Begabung habe, solch wunderlich-rätselhafte Sätze zu drechseln, verweise ich lieber gezielt auf Hörbeispiele, um den musikalischen Charakter und die Besonderheiten eines Orchesters zu veranschaulichen.

Wer aus eigener Kraft herausfinden sollte, welches Stück oder welches Orchester mit dieser Beschreibung gemeint sein könnte, gewinnt ein Wochenende – bei sich zu Hause. 


Ich habe versucht, die Biografien auf das Wesentliche zu beschränken, aber trotzdem etwas Typisches aus dem Leben der Musiker zu erzählen, damit die Personen etwas an Leben und an Charakter gewinnen. Wie ich in der Einleitung schon angemerkt habe, ist die Quellenlage nicht allzu gut und leider auch immer wieder mal widersprüchlich. Bei früheren Rezensenten einfach abzuschreiben und quellenunkritisch bisherige Meinungen zu wiederholen, hat mir widerstrebt – auch wenn ich mir dadurch einiges an Mühe und Zeit erspart hätte. Es gibt schon genug ‘Legenden‘ und Behauptungen, die sich bei genauerem Hinschauen als nicht real herausstellen. Nach dem Motto ›Wer trumpft mit der höheren Zahl auf‹ behauptete 2001 ein französischer Musikethnologie-Professor, Ende der 40er Jahre habe es in Buenos Aires die Zahl von 600 Orchestern gegeben. Nun, in diesem Buch finden sich mehrere schwerwiegende Fehler. Aber diese fantastische Zahl wurde trotzdem immer wieder gutgläubig und unhinterfragt herumgereicht, so dass aus dieser ungeprüften Sekundär- bzw. Tertiärquelle durch viele Wiederholungen in verschiedenen Publikationen eine kaum angezweifelte Legende wurde. »Wie allgemein bekannt gab es in Bs As Ende der 40er Jahre 600 Orchester...«

Wir sollten nicht einfach jede Zahl, jede nachträgliche Dramatisierung einfach so übernehmen, nur weil sie uns vielleicht gefällt. Was wir heute festhalten – darauf werden sich zukünftige Generationen stützen müssen. Was wir heute anhand von Zeitzeugen und der Quellenlage noch aufschreiben können, ist vielleicht in wenigen Jahren schon verschwunden. Ein Freund aus Argentinien erzählte mir im Februar 2022: »Corona ist ein Desaster für die Tangoszene. Die alten Leute kommen nicht mehr, viele Milongas sind kaputt gegangen.«


Michael KI                                           im März 2022



** gefunden in Tangodanza Nr. 2/21  S. 13



Europa – hast du es besser?

2019 hatte ich in Italien ein aufschlussreiches Gespräch mit einem älteren Tango-DJ aus Buenos Aires. Mir war bekannt, dass im Gegensatz zu Europa gewisse Orchester in Buenos Aires viel weniger gespielt werden. Und so nahm ich die Gelegenheit und fragte: »Hier in Europa ist das Orchester von Edgardo Donato sehr beliebt. Wie ist das in Buenos Aires?« – »Höchstens eine Tanda, und dann ganz am Anfang.« Ich fragte weiter nach Enrique Rodriguez, nach Alfredo de Angelis, nach Canaro und Juan d‘Arienzo, was die gängige Meinung über diese Orchester in Buenos Aires sei.

Hier in Europa ist zum Beispiel das Orchester von Enrique Rodriguez beliebt: Gute Musik, gefällig und solide arrangiert, bestens geeignet für entspanntes Tanzen. Eine grundlegende Fröhlichkeit, die aus seinen Kompositionen spricht. Seine vergnüglichen Foxtrotts, auf die man Milonga tanzen kann und die einen Abend beleben können. Ja, Rodriguez hat nicht die Komplexität eines Troilo oder das Raffinement von Caló – das will niemand bestreiten. Aber deswegen Rodriguez nicht zu spielen, kommt uns hier in Europa nicht in den Sinn. Interessant – die meisten CDs von Rodriguez kamen hier in Europa heraus (als erste die ›Otros Ritmos‹), und von hier aus gab es erst, so wurde mir gesagt, eine entsprechende Rückkopplung nach Argentinien.

Hier in Europa haben wir es meiner Meinung nach besser, weil wir unbefangener an diese Musikgattung herantreten können. Mir scheint, dass in Argentinien sich gewisse Beurteilungen festgesetzt haben, die wir hier in Europa manchmal mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen. Ich bin nicht der Einzige, der über manch etablierte Urteile verwundert ist, man spürt diese Verwunderung auch immer wieder in den Büchern von Michael Lavocah.

In meinen Besprechungen habe ich ab und zu die Beurteilungen aus Buenos Aires zitiert, zum Beispiel die des Hofchronisten bei Todotango, Julio Nudler, bei denen ich mir manchmal verwundert die Augen gerieben habe. Zum Beispiel bei seinen Bemerkungen zum Orchester von → Ricardo Tanturi. Aber jeder meiner Leser möge anhand der Musikbeispiele sich selbst ein Urteil bilden.


Traditionalismus?

Ja, ich gebe gerne zu – ich bin jemand, der die Musik aus der Epoca de Oro besonders schätzt. Ich bewundere die grosse Vielfalt dieser Musik, die Art, wie die musikalischen Einfälle in kunstfertige Arrangements umgesetzt wurden, und wie innerhalb der Melodieführung auf äusserst geschickte Art Rhythmus erzeugt wird, und das ohne Schlagzeug oder andere gebräuchliche Rhythmusinstrumente – und dabei alles bestens tanzbar! Für mich ist das ein ausserordentlich beeindruckender Schöpfergeist. Eine musikalische Glanzleistung, die nach dem Niedergang nicht mehr erreicht worden ist.

Und ja – ich organisiere die Musik in Tandas mit Cortinas. Nicht etwa, ›weil es in Buenos Aires so gemacht wird‹, sondern weil es sich als die angenehmste Art zu tanzen herausgestellt hat. Insofern kann man mich vielleicht als ›Traditionalisten‹ bezeichnen. Aber trotzdem lehne ich das Wort ‘Traditionalist‘ ab, denn ich bin nicht jemand, der unbesehen eine ‘Tradition‘ übernimmt. Man muss nicht alles nachmachen, nur weil behauptet wird, dass ›es in Buenos Aires so gemacht wird‹. Abgesehen davon, dass sich alles erst über die Zeit entwickelt hat – Tango und wie man ihn tanzte war nie etwas Starres. Das Festschreiben einer gewissen Tradition (und das Pochen darauf) darf man immer hinterfragen – z.B. Warum gerade die Gepflogenheiten eines bestimmten Zeitabschnitts zur Tradition erhoben wurden?


Tango ohne die Wertschätzung im Ausland?

Und wieder einmal sei die Frage erlaubt, ob der Tango hätte überleben können ohne die Anerkennung im Ausland? Ist das Ansehen des Tango im eigenen Land nicht erst durch die Wertschätzung im Ausland gestiegen? 

Eine weitere Anmerkung, die bereits von anderer Seite gemacht wurde: Da ist vielleicht das grösste Kulturgut, das Argentinien je hervorgebracht hat – aber wie geht es damit um? Welche Wertschätzung ist es, wenn wertvolle Schellack-Masters ohne zwingende Notwendigkeit vernichtet werden? Wurden die besten Digitalisierungen und Transfers auf CD in Argentinien gemacht? Nein, es waren zuerst japanische Sammler, die gut erhaltene Schellackplatten rechtzeitig gerettet und nach Japan gebracht und in sauberer Qualität transferiert haben. Warum sind entsprechende Projekte einer Sammlung dieses Kulturguts und deren Digitalisierung von den argentinischen Kulturbehörden nicht unterstützt worden? Die Frage sei erlaubt: Sieht Wertschätzung nicht anders aus?

Eine gewisse Distanz hat seine Vorteile. Vielleicht können wir durch diese Distanz eher erkennen, dass diese Musik etwas Besonderes ist, als wenn sie einfach so da wäre. Ja – wir lieben diese faszinierende Musik. Auf unsere Art und Weise. Es ist nicht besser, aber sicher auch nicht schlechter, wenn wir in Europa z.B. das Orchester von Edgardo Donato mehr schätzen als es in Argentinien geschätzt wird. Und die Qualität unserer Wertschätzung ist nicht unbedingt davon abhängig, ob alle wissen, dass Troilo den Vornamen Anibal (gefälligst mit einem Betonungszeichen auf dem i) und den Übernamen Pichuco hatte. 

Ja – ich meine, Europa, du hast es besser. Wir können unbefangener an die Musik herangehen und sie als etwas selten Schönes wertschätzen. 


Michael KI, im September 2020