Das Orquesta Tipica Brunswick und Orquesta Tipica Victor
– die Haus-Orchester der Schallplattenfirmen

‍    Es gab in Argentinien in der Frühzeit mehrere Schallplattenorchester wie das von Columbia, das aber nur wenige Tangos veröffentlichte und recht früh aus Argentinien verschwand.

Die beiden Schallplattenfirmen Brunswick und Victor hatten Studio-Orchester, die eigene Aufnahmen einspielten und Gastsänger begleiteten. Ein Merkmal beider Orchester war, dass sie öffentlich nicht auftraten und nicht live gehört werden konnten.

Das Label Brunswick war in Nordamerika ein wichtiger Konkurrent zu Victor. Ende der 20er Jahre kam Brunswick nach Argentinien. Wichtige Orchester, die bei Brunswick aufnahmen, waren unter anderem das von Julio de Caro (1929-32), Pedro Maffia (interessanterweise nur bis 1930), Edgardo Donato (1929-31) und Osvaldo Fresedo (1930-32). 

Die ersten Aufnahmen des Orquesta Tipica Brunswick stammen von Mitte 1929. Bereits Ende 1932 stellte Brunswick als Folge der Weltwirtschaftskrise in Argentinien die Schallplattenproduktion ein.

Die Musiker des Hausorchesters wechselten je nach Aufnahme, oft wurden auch Musiker, die in anderen Orchestern spielten, hinzugezogen. Das Orquesta Tipica Brunswick wurde von niemand geringerem als dem bekannten Bandoneonisten Pedro Maffia geleitet. Maffia hatte zu jener Zeit bereits sein eigenes Orchester und war nicht immer verfügbar; man vermutet, dass es deshalb Unterbrüche in der Aufnahmeserie gab.

Ab 1932 führte der Pianist Juan Polito offiziell das Orchester, in Wirklichkeit hatte er bereits zwei Jahre vorher die Führung übernommen. Die Aufnahmen des OT Brunswick waren vorwiegend instrumental, bei den Aufnahmen mit Gesang (Estribillo) waren die bekanntesten Sänger Antonio Rodríguez Lesende, Carlos Viván, Teófilo Ibáñez und Luis Diaz.

Ähnlich wie bei anderen Orchestern hören wir ab und zu tango-untypische Instrumente, wie zum Beispiel eine Singende Säge in Fruta prohibida, oder in Quejas de Bandoneon eine Hawaii-Gitarre. Aber im Gegensatz zum Orchester von Julio de Caro waren es keine gezielten Experimente in der Spielweise, sondern nicht mehr als gelegentliche Klangspielereien.

Aufnahmen des OT Brunswick findet man auf den CDs des BATC (Buenos Aires Tango Club), die mittlerweile bei Terra Melodica in Berlin erhältlich sind. Die CD Que Bonboncito von Danza y Movimiento ist bei Tangodanza erhältlich.

Schön finde ich den Vals → Besos divinos (1931 mit Luis Diaz), aus dem gleichen Jahr interessant auch der Tango → Brochazos (wieder mit Luis Diaz). 

Das Orchester war dank seiner Musiker auf dem Niveau anderer guter Orchester. Wenn ich jedoch originelle Merkmale aufzählen wollte, die dieses Orchester von anderen jener Zeit unterscheiden würden, fällt mir kaum etwas auf. Die Spielweise finde ich ähnlich zu der der anderen Orchester.

In der Folge der Weltwirtschaftskrise verschwand Brunswick in der zweiten Hälfte von 1932 aus Argentinien. Ob es nur infolge der Weltwirtschaftskrise war, dass diese grosse Firma das Feld in Argentinien räumte, oder ob auch andere Umstände dafür verantwortlich waren, ist mir nicht bekannt.

Das hatte zur Folge, dass für zwei Jahrzehnte die beiden grossen Firmen Odeon und RCA Victor in Argentinien das Sagen hatten und den Markt dominierten. Die mangelnde Konkurrenz führte dazu, dass manche Orchester Knebelverträge erhielten (Tanturi und Troilo) und – noch schlimmer – einige gute Tango-Orchester, wie zum Beispiel das von Juan Polito nach dem Weggang von Juan d‘Arienzo, keinen Schallplattenvertrag erhielten. Ein weiterer Punkt, der für uns Tangoliebhaber wichtig ist und der recht selten angesprochen wird: die beiden Labels verhinderten Konkurrenz im eigenen Haus. Lomuto nahm ab 1931 bei RCA auf, während sein Freund Canaro bei Odeon unter Vertrag stand. Deshalb konnten die beiden, oft kurz hintereinander, die gleiche Komposition einspielen. Bei Anibal Troilo und Carlos di Sarli finden wir nur ganz wenige Überschneidungen in den Titeln, weil sie beide bei RCA unter Vertrag waren. Wie viele Titel durch diese Restriktionen nicht den Weg auf Platte fanden, können wir nur erahnen.



Das Orquesta Tipica Victor (OT Victor, OTV)

Das bekanntere der beiden Studio-Orchester war das des Victor-Schallplattenlabels, früher mit dem Namen Victor Talking Machine Company – die mit dem Logo 'His Masters Voice' und dem Hund vor dem Grammophon-Trichter. Victor kam erst 1925 nach Buenos Aires, die erste Aufnahme ist vom November 1925. 

Das OTV machte Aufnahmen von November 1925 bis Mai 1944. Auch wenn es sich ‘Orquesta Tipica‘ nannte, nahm es über hundert ›otros ritmos‹ wie Foxtrots, Polcas, Corridos, Pasodobles, Marchas, Boleros, Rumbas und Zambas auf. Das war fast ein Viertel des Ausstosses.

Wie bereits erwähnt, war es kein festes Orchester, sondern setzte sich aus verschiedenen Musikern zusammen, wobei je nach Aufnahme weitere Musiker von anderen Orchestern hinzu gezogen wurden. Beim OT Victor spielten viele Spitzenmusiker - der junge Troilo war dabei, Elvino Vardaro, Ciriaco Ortiz, der junge Pedro Laurenz, Adolfo Carabelli am Klavier, Cayetano Puglisi (der spätere Solo-Violinist bei d'Arienzo), um nur ein paar zu nennen. Ebenso sangen einige namhafte Sänger beim OT Victor: Charlo (Sänger bei Canaro und Lomuto), Angel Vargas (d'Agostino), Fiorentino (Troilo), Ernesto Fama (Canaro), Alberto Gómez, um auch hier nur die bekanntesten zu nennen.

In späteren Jahren wurden aus kommerziellen Gründen verschiedene Ensembles zusammengestellt wie das Orquesta Tipica Porteña, Orquesta Radio Victor Argentina (bei Radiosendungen, unter der Leitung von Mario Maurano), Orquesta Típica los Provincianos (mit Ciriaco Ortiz, von 1931-34), Orquesta Victor Popular und Victor de Salón

Bei vielen Aufnahmen von bekannten Sängern (z.B. Alberto Gómez und Mercedes Simone) war das OTV das Begleitorchester, wurde aber auf der Platte nicht mal erwähnt.  

1937 kam eine Platte heraus, auf deren Label es hiess: »Enrique S. Discépolo y Su Orquesta Tipica«, mit den Titeln → Desencanto, und → Un reproche auf der anderen Seite. Die Sängerin war seine Frau Tania, die im Film El pobre Pérez mitgespielt hatte. Discépolo hatte zwar die Lyrik für beide Titel und die Musik für Desencanto geschrieben, aber es ist nicht bekannt, dass er ein eigenes Orchester hatte. In Wirklichkeit ist es das OT Victor, das seine Frau, wie viele andere Sänger, begleitet hatte.
Dass man jemanden auf einer Plattenaufnahme zum Orchesterleiter machte, um ihn an Geld und Ehre teilhaben zu lassen, ist mir auch bekannt aus der Swing-Ära der dreissiger Jahre.

Die meisten OTV-Discographien sind unvollständig. Es bleiben einige Fragen, die wohl im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben.

Ein anderes Kuriosum des OTV war, dass es keinen festen Orchesterleiter hatte. Zwei Namen werden vor allem mit dem OT Victor in Verbindung gebracht: Luis Petrucelli und Adolfo Carabelli

Luis Petrucelli war ein Bandoneonist, der in den zwanziger Jahren mehrmals mit Pedro Maffia in verschiedenen Ensembles gespielt hatte. Unter anderem war er (zusammen mit Maffia) Gründungsmitglied des Ensembles, das später den Namen von Julio de Caro bekommen sollte. Er steuerte dort den schönen Tango Maliciosa bei, der 1928 aufgenommen wurde. 

Als Musikbeispiele aus der Ära Petrucelli möchte ich folgende vorschlagen: → Che papusa oi (1927), das schöne  Fumando espero mit Rosita Quiroga (1927, eine schönere Lobpreisung des Rauchens kann es kaum geben...) und  der Instrumentaltango → Coqueta (1929). 

Petrucelli  soll das OT Victor von 1925 - 1931 geleitet haben. Das ist nicht ganz zutreffend. Petrucelli war ein paar Monate, nachdem er das OTV-Orchester gebildet hatte, mit Francisco Canaro unterwegs in New York, wo die Musiker in Gaucho-Fantasie-Kostümen auftraten. Nach seiner Rückkehr nach Bs As stellte er seine eigenes Sextett zusammen und spielte bis 1931. Er war sicher eine einflussreiche Person im OT Victor, aber nicht wirklich der Orchesterleiter im eigentlichen Sinn. An anderer Stelle las ich, dass er für die Repertoire-Auswahl und die künstlerischen Aspekte verantwortlich war (»for which he is responsible in the repertoire choice and head of the artistic aspects«). Ab 1936 finden wir ihn bis zu seinem frühen Tod im Orchester von Osvaldo Fresedo. Luis Petrucelli starb 1941 mit nur 38 Jahren. 

Sein Nachfolger war Adolfo Carabelli, der das OT Victor von 1931-35 führte. Die Oberen der Victor Recording Company zögerten zuerst, ihm die Leitung zu übertragen, denn Carabelli war besonders dem Jazz zugetan. Er hatte ein eigenes Jazz-Orchester und war weniger an Tango interessiert. An anderer Stelle las ich, dass er bis dahin keine Tango-Erfahrung gehabt haben soll. Auf jeden Fall war er ein erstklassiger Pianist, der in Bologna klassische Komposition studiert hatte. Wie Petrucelli führte auch er seine Karriere mit seinem eigenem (Jazz)-Orchester unabhängig weiter. 

Carabelli hatte ein gutes Händchen, unter ihm gab es einige gute Aufnahmen, wie z.B. das wunderbare → Secreto (mit Luis Diaz, Lyrik und Musik von E.S. Discépolo). Interessant ist, dass Carabelli mit seinem (? - oder doch dem OTV?) Orchester am gleichen Tag, am 5.10.1932 → eine weitere Version von Secreto mit einem anderen Arrangement und dem Sänger Alberto Gomez aufnahm. Interessant auch, dass auf dieser Plattenetikette das Orchester nicht erwähnt wird. 

Carabelli hatte einen grösseren musikalischen Einfluss auf das Orchester, ab 1931 war er der Pianist des Orchesters. Wichtige Musiker dieses Ensembles waren Ciriaco Ortiz, Petrucelli und Federico Scorticati (Bandoneons) und der Ausnahme-Violinist Elvino Vardaro. Vardaro war bereits vor 1931 Teil des OTV und prägte mit seiner Violine den Orchesterklang.

An zwei Stellen las ich, dass Carabelli ›vielleicht einer der unterbewertesten Musiker‹ gewesen sei (wobei vermutlich der eine vom anderen abgeschrieben hat). Ich weiss nicht, ob man das so stehen lassen kann. Es gibt sicher musikalisch gute Tangos von ihm und seinem Orchester, wie El Caburé und  Cuatro palabras (mit Charlo 1933), aber auch nicht wirklich viele. Es sei auch angemerkt, dass in den Biographien von Todotango Widersprüchlichkeiten auftauchen. Wer sich mit seiner Musik beschäftigen will, dem sei die CD von Euro Records empfohlen. (Mi Evocación 1927-35, Coleccion 78 rpm 17043). Auch hier hat es neben den Tangos einige ›otros ritmos‹ wie Rumba, Pasodoble, Ranchera und Foxtrot (z.B. seine Interpretation von You're driving me crazy - Me vuelves loco → siehe hier).

Carabellis Weggang im Februar 1935 war eine Zäsur. Es folgte eine 14-monatige Aufnahmepause beim OT Victor. Carabelli starb 54-jährig bereits 1947, ein ›sentimental drama‹ soll ihn schwer getroffen haben.


Sein Nachfolger ab Mai 1936 war Federico Scorticati. Scorticati wollte nach eigenem Bekunden die Rolle des Orchesterleiters nicht, aber die Oberen von Victor entschieden sich trotzdem für ihn, u.a. auch, weil er bei Radiosendungen von Radio Belgrano Bandleader war. Er stellte sich als gute Wahl heraus. Er hatte eine grosse Spielerfahrung und war im Tango verwurzelt, hatte unter anderem bei Francisco Canaro und Carlos di Sarli gespielt. Unter ihm wurden über 90 Schallplattenaufnahmen gemacht (wovon etwa die Hälfte keine Tangos waren). 

Aus jener Periode gefallen mir besonders → Milonga de los fortines (1937, mit Mariano Balcarce, eine Milonga mit traurigem Hintergrund), → Barrilito (1940), → Tango milonguero (1940) und der Vals → Sin rumbo fijo (1938 mit Angel Vargas).


Nach Scorticatis Weggang im November 1941 gab es fast zwei Jahre keine Aufnahmen mit dem OTV, dann folgte noch eine kurze Phase von September 1943 bis Mai 1944 mit 18 Aufnahmen unter der Leitung von Mario Maurano, einem Musiker und Arrangeur des OTV, der (wie die Leiter vor ihm) sein eigenes Orchester hatte. 

Aus jener Zeit gefällt mir besonders das schöne → Mi taza de café (1944 mit Alberto Carol) mit der Lyrik von Homero Manzi, das 1943 von Ricardo Malerba aufgenommen worden war. 

Der Nachmittag erstirbt hinter der grossen Scheibe, 

in Gedanken versunken trinke ich meine Tasse Kaffee. 

Vorbeiziehende Erinnerungen, Triumph und Schmerz, 

Licht und Schatten vergangener Zeiten.

Vergleicht die Version des OTV mit der von → Malerba (mit Orlando Medina). Beide sind sehr schön und in der Interpretationsweise ähnlich, jedoch gefällt die des OTV mir ein bisschen besser. Es sind Kleinigkeiten, aber die machen es aus. Achtet z.B. auf die Cello-Linie ab 0.48 unterhalb der Melodie. Insgesamt kommt die OTV-Version etwas rhythmischer daher.

Die Melodie von Mi taza de café wurde, wie ich finde, von Maurano in einem anderen Stück nur wenige Wochen später wiederverwertet  → Bajo el cono azul (mit Alberto Carol) hat für mich sehr viele Ähnlichkeiten. Es kommt mit einigen Ideen daher, z.B. mit der kurzen Bandoneonvariation, der rhythmischen Spielerei und den Pizzicati gleich am Anfang, aber es ist in der Melodie so ähnlich, dass ich die beiden Stücke nicht hintereinander auflegen kann. 

In jener Zeit hatten viele der ehemaligen OTV-Musiker mittlerweile ihre eigenen, gut florierenden Orchester und ein gutes Einkommen – für ein Haus-Orchester einer Plattenfirma gab es kaum mehr eine Notwendigkeit. Die letzte Aufnahme des OTV war am 9. Mai 1944.



‍    Bailemos Tango ! 


‍          Tango-DJ Michael KI                                      © Okt. 2020   letzte Ergänzung-Korrektur 01/2021 





Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen

zusätzlich: – https://www.todotango.com/english/history/chronicle/486/Orquesta-Tipica-Victor/

https://www.todotango.com/english/artists/biography/89/Adolfo-Carabelli/

– https://www.todotango.com/english/history/chronicle/487/Orquesta-Tipica-Brunswick/

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Discographie: – https://adp.library.ucsb.edu/index.php/mastertalent/detail/111691/Orquesta_Tpica_Victor?Matrix_page=100000   (nur bis 1939)

‍                         – https://milongandoblog.wordpress.com/2017/01/11/orquesta-tipica-victor-discografia/ 

(eine der wenigen, die bis 1944 geht. Die meisten Discographien sind unvollständig)


Verschiedenes:  – www.davidsarnoff.org/vtm.html (Firmengeschichte Victor, hier besonders interessant Kap. 8)

‍                        – www.mainspringpress.com/victorsales.html 

(direkter Link zu Verkaufszahlen 2020 nicht mehr zugänglich. Einiges Interessantes über verschiedene Schallplattenlabel)