Juan d’Arienzo – El Rey del Compas (1900 - 1976)

Vorsicht, meine Herren, vergesst nicht, dass der Tango auch ein Tanz ist.
– Guarda caballeros, no olviden que el Tango también es baile. - José Gobello

Juan d'Arienzo liess manches Merkmal eines bemerkenswerten Talents vermissen: er soll ein mittelmässiger Musiker gewesen sein, als Komponist trat er auch nicht besonders hervor (seine erfolgreichsten Kompositionen, die man mit seinem Namen verbindet, sind Pacienca und Nada mas), und auch als Arrangeur hatte er nicht die Fähigkeiten eines Troilos – er musste sich da auf andere verlassen (so Michael Lavocah in seiner d‘Arienzo-Bigraphie). Und dennoch wurde d‘Arienzos Orchester, mit über 1000 Schallplattenaufnahmen, zu einem der gefragtesten Orchester, das zudem über einen sehr langen Zeitraum bis in die 70er Jahre spielte und dabei erfolgreich blieb – nachdem manch anderes bekannte Orchester schon längstens die Segel gestrichen hatte.


‍    Wir können seine Karriere (je nachdem welche Aspekte man hervorhebt) in etwa vier bis fünf Perioden unterteilen.    


‍    I. Die Anfänge

‍    Wie der Name verrät, wurde Juan d'Arienzo als Sohn italienischer Einwanderer im Dezember 1900 geboren. Die Liebe zur Musik hat er vermutlich von seiner Mutter geerbt, die ihn in seiner Entwicklung unterstützte, während der Vater den Musikerberuf, vor allem in Bezug auf Tango, ohne Zukunft sah. Er wollte, dass sein Sohn Jura studiert und ihm im Geschäft nachfolgt. Trotzdem bekam er Musik- und Violinenunterricht an einem Konservatorium. Er lernte den Klavierspieler Angel d'Agostino kennen, beide übten zusammen. Bereits im zarten Alter von 15 (die Zeitangaben gehen hier auseinander) soll es zu ersten gemeinsamen Auftritten sonntags in einem Zoo gekommen sein. Zusammen mit einem Flötenspieler bilden sie das Trio mit dem selbstbewussten Namen Los Ases del Tango. Juan trifft Carlos Posadas, einen Violinisten und Komponisten, der ihm eine Anstellung im Teatro Avenida verschafft. Posadas stirbt kurze Zeit später, aber Juan hat das Glück, zusammen mit Angel d'Agostino beim Teatro Nacional angestellt zu werden und dort mit einem kleinen Tango-Ensemble zu spielen.

‍    Ab 1921 spielt er Jazz im Ensemble La Jazz Select Lavalle und macht bei Stummfilmaufführungen die Musik. Dort lernt er Lucio Demare kennen. Gemäss Zeitzeugen soll er aber ein eher mittelmässiger Geiger gewesen sein mit einem schrillen Ton. In dieser Zeit bekommt er den (nicht gerade schmeichelhaften) Spitznamen El Grillo (oder El Grillito – die kleine Grille). 

Aus dieser Zeit gibt es keine Aufnahmen, aber wir wissen davon aufgrund von Werbeplakaten für diese Live-Auftritte. Ab etwa 1925 (laut anderen Berichten 2-3 Jahre später) soll er sich wieder dem Tango zugewendet haben. Mit dem Pianisten Luis Visca bildete er das d‘Arienzo-Visca-Sextett, und sie hatten das Glück, im Cabaret Chantecler, einem der bedeutendsten Kabaretts in Buenos Aires jener Zeit, Fuss zu fassen. Visca verliess kurz darauf das Orchester, und d‘Arienzo war somit alleiniger Orchesterleiter. Glückliche Umstände begünstigten ihn, denn seine Mutter Amalia war zufälligerweise die Schwester von Alfredo Amendola, dem Begründer und Besitzer der Schallplattenfirma Electra, und dessen Sohn Atilio war der künstlerische Leiter. Mit seinem Orchester machte d'Arienzo 1928-29 seine Aufnahmen bei Electra, wobei er die Besetzung auf acht Mann erhöhte. * ) 

‍    Der Leiter der Bandoneon-Sektion war zu jener Zeit niemand geringerer als Ciriaco Ortiz (wobei Lavocah die Anmerkung macht, dass Ortiz vermutlich nur für die Aufnahmen anwesend war, und nicht bei den Live-Auftritten des Orchesters mitspielte). Kurz zusammengefasst – diese Aufnahmen von 1928-29 bei Electra sind nichts Besonderes, was sich auch daran zeigt, dass er von den 46 dort aufgenommen Titeln nur den Tango Chirusa in sein späteres Repertoire aufnahm. Die frühen Aufnahmen geben wenig Hinweis, in welche musikalische Richtung d‘Arienzo sechs Jahre später gehen würde.

Das kleine Electra-Label überlebte die Weltwirtschaftskrise von 1930 nicht.


Juan d‘Arienzo hatte gute Verbindungen, und so schaffte er es in den ersten argentinischen Tonfilm ›El cantor de mi ciudad‹, wo er und sein Orchester Maria Turgenova begleitete. Es war ein recht unbedeutender Film, aber 1933 spielte er auch mit im Film ›Tango‹, dem ersten wirklichen Tonfilm in Argentinien, zusammen mit Fresedo, Maffia, Donato und anderen. In einer kurzen Szene sieht man d’Arienzo mit der Violine vor seinem Orchester auf dem Balkon des Kabaretts Chantecler – meines Wissens die letzte Aufnahme von ihm mit der Geige in der Hand. Später agierte er auf der Bühne (mit einigen Showeffekten) nur noch als Orchesterleiter.

Das Jahr 1935 – Carlos Gardel starb in einem Flugzeugabsturz, und niemand war da, um ihn zu ersetzen. Das Orchester von Julio de Caro hatte den Tango verfeinert, und ›von den Füssen zum Kopf gebracht‹, aber es sprach die Tänzer nur wenig an, und Tango stand zu jener Zeit nur an zweiter Stelle hinter Jazz und Foxtrott. Es hätte gut sein können, dass der Tango einfach eine Musikrichtung unter anderen geblieben wäre.

Als nach sechs Jahren Aufnahmepause d’Arienzo 1935 einen Schallplattenvertrag bei RCA Victor bekam, hatte er wieder Glück. Seine beiden ersten Aufnahmen, der Vals Desde el alma und der Tango Hotel Victoria kamen beim Publikum gut an, und so konnte er bis Ende 1935 weitere Schallplatten aufnehmen – etwas, was in jener Zeit nicht selbstverständlich war. Der mittlerweile ›Rey del Compas‹ genannte d‘Arienzo (er bekam diesen Titel vom Leiter des Chanteclers) zog mit seiner rhythmusbetonten Spielweise die Tänzer in grosser Zahl auf die Tanzfläche. Das ist d’Arienzos grosser Verdienst, und vermutlich deshalb setzen viele den Beginn der Epoca de Oro auf 1935. Ich möchte anmerken, dass er nicht, wie es so oft dargestellt wird, der erste war, denn vor ihm hatte bereits Edgardo Donato grossen Erfolg mit einer rhythmusbetonten Spielweise. Gut möglich, dass er von diesem inspiriert worden war.

Der Pianist in d‘Arienzos Orchester war zu jener Zeit Lidio Fasoli – bei den ersten zehn Aufnahmen bei Victor RCA ist er zu hören. Wie wir hören können, macht Fasoli seine Arbeit gut, er war jedoch berüchtigt unzuverlässig und kam oft zu spät oder erschien überhaupt nicht bei den Live-Veranstaltungen. Als er und auch der Ersatzpianist eines Abends im Chantecler mal wieder nicht auftauchte, fragte d‘Arienzo Rodolfo Biagi, mit dem er befreundet war und der oft im Chantecler war, ob er nicht einspringen könne. Der liess sich nicht zweimal bitten.

Biagis Einfluss auf die Spielweise des Orchesters war gross. Normalerweise kam der Maestro immer etwas später, so dass das Orchester das erste Set oft alleine spielte, was ihnen die Möglichkeit zu experimentieren gab. Und eines Abends verlangte das Publikum, dass d‘Arienzo bzw. das Orchester den Tango 9 de Julio ›auf die neue, vorher gehörte Art‹ spielen sollte. D‘Arienzo erkannte sofort, wie gut dieser von Biagi beeinflusste Stil ankam, und ab dann war d‘Arienzos Orchester noch angesagter. Sein Ensemble zog die Tänzer in grosser Zahl in die Milongas, weil er mit seinem Stil kompromisslos für die Tänzer spielte. Die ersten Aufnahmen mit Biagi waren am 31.12.1935 der Vals Orillas del Plata und 9 de Julio.

Auffallend sind Biagis Überleitungen von einer Phrase zur nächsten Phrase. Normalerweise sind diese ein Ruhepunkt zum Atmen, so wie wir zwischen zwei Sätzen einen kurzen Moment innehalten, bevor der nächste Satz kommt. Wenn man das als Tänzer nicht macht, dann ist es wie Sprechen ohne Punkt und Komma. Anstatt einen kleinen Ruhepunkt zu geben, nutzt Biagi diesen Moment, um Energie aufzubauen, oft durch Triller hoher Noten. Diese Überleitungen von Phrase zu Phrase haben weniger den Charakter von Verbindungen, sondern sind eher Punktuierungen, sie haben etwas Unvorhersagbares und Wildes. Durch die abgehackte, rhythmusbetonte Staccato-Spielweise mit kleinen Unterbrechungen wird die Musik noch energetischer. Den Gegensatz bilden die Violinen, vor allem die erste Violine mit dem tiefen Spiel auf der vierten Saite, für die d’Arienzos Jugendfreund Alfredo Mazzeo verantwortlich ist.

1935 hatten die Besitzer der Zeitung El Mundo den Entschluss gefasst, in das immer populärer werdende Medium Radio zu investieren. Sie bauten nach dem Vorbild der BBC London ein Rundfunkgebäude mit verschiedenen Studios. Das Radio sendete nicht nur auf Mittelwelle, sondern hatte auch einen zusätzlichen Kurzwellen-Sender, der bei guten atmosphärischen Bedingungen von Zeit zu Zeit auch in Europa empfangen werden konnte.

Der Sender war anfangs nicht sonderlich erfolgreich, aber der neue Programmdirektor Pablo Valle, der nach zwei Wochen das Ruder übernahm, setzte auf Jazz und auf Tango, und in kürzester Zeit wurde die Radiostation mit dem Kürzel LR1 eine der bekanntesten und beliebtesten im ganzen Land.

Der Programmdirektor Valle fragte d‘Arienzo Ende 1935, ob er bei ihm auftreten wolle, aber zu jener Zeit konnte d‘Arienzo nicht. Ein inoffizielles Debüt folgte Ende Dezember 1936, der offizielle Start war an Neujahr 1937. Dies machte d‘Arienzo und sein Orchester mit einem Schlag noch bekannter und verhalf ihm zu noch mehr Erfolg.

Bald folgte eine Einladung nach Montevideo, und im Jahr darauf spielte er bereits im exklusiven Hotel-Casino-Komplex Carrasco. Dort war er so erfolgreich, dass er weitere 20 Jahre im Januar und Februar Jahr für Jahr dort auftrat.

Trotz des grossen Erfolges von d‘Arienzo gab es einige kritische Stimmen – ein bekannter Kritiker schrieb, dass in musikalischer Hinsicht d‘Arienzo den Tango 15 Jahre zurück versetzt hätte. Vielleicht verglich er ihn mit de Caros Spielweise, der den Tango zu fast klassischer Komplexität geführt hatte, der vor allem den Kopf, aber weniger die Füsse der Tänzer ansprach. Und de Caro soll gespöttelt haben, dass d‘Arienzos Orchester bloss ein Sommerorchester sei. Als d‘Arienzo das hörte, spöttelte er zurück: »Vielleicht, aber er hat nicht gesagt, wie viele Sommer.«

Einer der ersten wirklich grossen Hits des Orchesters ist die Milonga → La Puñalada (rec. 24.7.1937). Gemäss den Anmerkungen des d'Arienzo-Experten Jan Vindenvogel schrieb der Komponist aus Montevideo Pintin Castellanos das Stück im Februar als Tango und übergab die Noten in Montevideo. Die erste Reaktion von d'Arienzo, Mazzeo und Biagi auf diese Komposition soll recht verhalten gewesen sein. Bei einem der ersten Sets, als der Meister noch nicht anwesend war, soll Biagi den Tango zum Milonga-Rhythmus geändert haben, was vom Publikum sogleich enthusiastisch angenommen wurde. Gemäss anderen Berichten soll Biagi von Anfang an d'Arienzo vorgeschlagen haben, das Stück (mit dessen Zustimmung) zu einer Milonga zu ändern. ** ) 

Der anhaltend grosse Erfolg von d‘Arienzo beunruhigte die anderen Orchesterleiter. Von Firpo wird erzählt, dass er, als er im Radio Belgrano aufnahm, zu seinem Pianisten sagte: »Hör zu, wir müssen was tun!« D'Arienzos Spielweise und sein Erfolg hatte Auswirkungen auch auf andere Orchester. Tanturis erste Aufnahmen sind hörbar von d‘Arienzos Spielweise beeinflusst. Und nur wenige Tänzer werden erkennen, dass der → Tango milonguero nicht von d‘Arienzos Orchester gespielt wird, sondern vom OT Victor – selbst das liebliche Violinspiel auf der tiefsten Saite (ab etwa 2.04) wird übernommen. 

De Caro nahm 1938 den Tango Arolas, sehr untypisch für ihn, mit einem sehr schnellen Schlag auf. Trotz dieser Anpassung schrumpften de Caros Verkaufszahlen bis 1943 immer mehr, und im folgenden Jahr zog er sich für beinahe fünf Jahre von der Bühne zurück.

d'Arienzo mit Biagi und Orchester im Radiostudio, um 1938
Der Casino-Hotel-Komplex Carrasco. Offensichtlich ein Ferienort für ein vermögenderes Publikum.
d'Arienzo in MV bei Radioauftritt, rechts von ihm Pintin Castellano, der Autor von La Punalada

II. Die Trennung von Rodolfo Biagi 1938 – die Ära mit Juan Polito

‍    Rodolfo Biagi spielte mit d‘Arienzos Orchester 66 Aufnahmen ein. Die fruchtbare Zusammenarbeit von Biagi und d'Arienzo endete abrupt Mitte 1938. Seine letzten Aufnahmen waren Champagne Tango und → Pensalo bien am 22.6.38.

‍    Ein paar Vorbemerkungen, bevor wir zu der am meisten erzählten Geschichte kommen. D'Arienzo wollte der Star auf der Bühne sein, und er hatte anscheinend Mühe, jemanden neben sich gelten zu lassen. Geht auf YouTube und schaut euch die Fernsehauftritte von d'Arienzo an – auch im hohen Alter will er der Mittelpunkt sein, so wie er auf der Bühne herumspringt. 

‍    Bei den Fernsehaufnahmen können wir sehen, wie er mit seinem Finger nahe vor dem Gesicht der Sänger herumfuchtelt. Die Sänger haben wiederholt erzählt, wie ungern sie das hatten. Nachdem Mario Bustos d'Arienzo mehrmals gewarnt hatte, mit dem Rumfuchteln aufzuhören, biss er ihn vor laufender Kamera kurzerhand in den Finger! Das Publikum dachte, das sei Teil der Show. *** )

‍      Die Trennung des erfolgreichen Teams d'Arienzo - Biagi beschäftigte die Tango-Historiker wie auch die Leute jener Zeit.

‍     Die am meisten erzählte Geschichte von Biagis Rauswurf geht so: die Band spielte den Vals Lagrimas y sonrisas, und Biagi war besonders gut drauf – das Publikum applaudierte ihm für sein brillantes Spiel und wollte nicht aufhören, bis Biagi sich kurz auf dem Klavierstuhl verneigte. An diesem Punkt ging d'Arienzo zu Biagi und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich bin der einzige Star des Orchesters – Du bist gefeuert.« (Mehr über die Hintergründe in Biagis Biographie.)

‍    Es ging nicht allzu lange, und Juan Polito sass auf dem Stuhl von Biagi. Das Bemerkenswerte ist, dass er den von Biagi geprägten Stil von Anfang an ziemlich gut imitierte, sodass viele kaum einen Unterschied erkannten zur Spielweise von Biagi, auch wenn Polito nicht die Raffinesse von Biagi hat und mehr auf die Tasten hämmert. Auch wenn Biagis Kreativität fehlte – die Musik war immer noch kraftvoll akzentuiert und begeisterte weiterhin das Publikum. Das Orchester war auch in dieser Periode äusserst erfolgreich. In dieser Zusammenstellung mit Polito machte d‘Arienzos Orchester 40 Aufnahmen.

‍    In Sachen Verkaufszahlen war d‘Arienzos Orchester das erfolgreichste der Epoca de Oro. Er verkaufte am meisten Platten. Seine »La Cumparsita«-Schallplatten sollen unglaubliche 14 Millionen mal (!) verkauft worden sein. **** )

‍   Die Musiker von d‘Arienzo verdienten gut, sie waren besser bezahlt als die von Troilo und di Sarli. Um es in Relation zu setzen: die wichtigeren Leute des Orchesters verdienten 1000 Pesos im Monat, und bereits mit drei Monatsgehältern hatte man das Geld für ein Luxusauto. Laut Carlos Puente verkaufte sich jede Platte mindestens 20-30‘000 mal, und bei einem Hit erwartete man 75‘000 verkaufte Exemplare. Trotz der grossen Quantitäten, die gedruckt wurden, waren die Platten immer wieder mal ausverkauft; Plattenläden konnten es sich leisten, die Platten über Listenpreis zu verkaufen, oder von den Käufern zu verlangen, dass sie zu einer d‘Arienzo-Platte zusätzlich die eines anderen Orchesters kauften.


Yunta brava (rec. 4.1.1939) Die Musik plötzlich zu stoppen ist ein musikalischer Trick, den d‘Arienzo schon öfters angewandt hatte. Yunta brava ist fast schon ein Vorzeigestück für diese Technik. Nach den ersten einleitenden Takten – Pause – füllt das Klavier mit ein paar hohen Trillern jeweils die kurzen Pausen, wobei es diesmal keinerlei Begleitung hat, auch nicht vom Bass. Es folgen in der Melodie weitere ganz kurze Pausen (das Orchester muss sehr viel geübt haben, um das in dieser Präzision hinzukriegen). Bei ca. Minute 1 kommen gleich drei grössere Stopps, wo das ganze Orchester kurz stillsteht. Aber anstatt, dass das Klavier diese Pausen füllt, wie man es erwarten könnte, bleibt es bei der Stille. Die Melodie geht weiter, gleich nach dem lieblichen Geigensolo kommen, wie als Gegensatz, knarzende Töne (bei 1.24). Bei ca. 1.50 wieder mehrere kurze Pausen, wobei sie hier, analog zum Anfang, mit kurzen Klaviertrillern gefüllt werden.


Por que razón? - aus welchem Grund? (rec. 22.12.1939)  Dieser kraftvolle Tango des Komponisten Salvador Grupillo, (Tigre viejo, La Taita und andere) hat bereits bei ca. 0.13 mehrere kurze Breaks. Dann das Klavier mit punktuierten Anschlägen, die Geige antwortet auf tiefer Saite. In der Folge drei Pizzicati. Bei ca. 1.10 ein Wechsel der Melodie, man erwartet, dass es jetzt richtig losgeht, aber stattdessen – das Orchester nimmt sich zurück, spielt sehr verhalten, die Violinen singen relativ leise in hoher Lage. Bei 1.40 kommt das Thema zurück, wieder mit kurzen Breaks und der singenden Violine bis 2.09. In der Folge wird das Gezügelte freigelassen, die Bandonenons brechen mit einer bzw. zwei Variaciones los, wobei die zweite im Rhythmus deutlich anders ist. Bei 2.37 geben sie die Führung an das Klavier ab, die Bandoneons machen nur noch Hintergrundrhythmus, das Klavier zieht überraschenderweise durch bis zum Schluss. Ein kraftvoller Tango mit viel Energie.


‍    Es war kurz vor Weihnachten, die Aufnahme von Por que razón und Trago amargo fanden am 22.12.1939 statt. Wie sich herausstellt, sind es die letzten Aufnahmen mit Juan Polito am Klavier. Dann überstürzten sich die Ereignisse – und führten zu diesem Foto. 

‍    Was der Hintergrund dieses seltsamen Fotos war, und warum d‘Arienzo auf dem Foto so bestürzt dreinschaut, konnte mir lange niemand erklären. Der Hintergrund ist folgender: im Frühjahr 1940, als d‘Arienzo mit seinem Orchester in Montevideo weilte, verlangten die Musiker eine Lohnerhöhung. Sie schickten Juan Polito mit dieser Forderung zum Chef. Dieser lehnte ab. Um das Problem etwas zu entschärfen, bot er ungeschickterweise nur Polito eine Erhöhung auf 1600 Pesos im Monat – eine aussergewöhnliche Summe. Polito blieb jedoch solidarisch mit seinen Mitmusikern, und das Orchester, inklusive dem Sänger Echagüe, kündigte per Telegramm, die gesetzliche Kündigungsfrist einhaltend, auf den 4. Februar, inmitten der wichtigen Karneval-Saison.

‍    Die Nachricht schlug wie eine Bombe ein, der Direktor von Radio El Mundo versuchte noch zu vermitteln, aber es blieb beim Bruch. Viele Leute dachten, der Weggang des Orchesters – und damit auch des ganzen Repertoires – wäre das Ende für d‘Arienzo, der mit nichts mehr da stand als mit seinem Namen. Entsprechend titelten auch die Zeitungen: »Das Ende von Juan d‘Arienzo«.

‍    Aber es kam anders.

III. 1940-50 das neue Orchester mit Varela und Salamanca

‍    Juan d'Arienzo rettete sich aus der Misere, indem er Héctor Varela überreden konnte, ihm dessen Orchester zu überlassen. Varela bekam den Posten des ersten Bandoneonisten und des Arrangeurs, als Pianisten wählte d'Arienzo den erst 18 Jahre alten Fulvio Salamanca, den er früher auf einer Tour in der Provinz Córdoba gehört hatte. Bei Salamanca gab es das Problem, dass er, wie Pugliese, überzeugter Kommunist war, und d‘Arienzo musste ihn in der Folge mehrmals aus dem Gefängnis holen. Des weiteren holte er (von de Caro) den Geiger Cayetano Puglisi. Das waren die drei wichtigsten Mitglieder des neuen Orchesters.

‍    Das neue Orchester übte und studierte die neuen Stücke ein. D‘Arienzo testete die Reaktion des Publikums und baute neugierige Erwartung auf, indem er anonym mit dem neuen Orchester am Radio spielte. Er konnte voller Zuversicht in die Zukunft blicken.

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‍    Um es kurz zu machen – das neue Orchester war sogar noch erfolgreicher als das alte mit Polito!

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‍    Die ersten Schallplattenaufnahmen waren im April, das offizielle Debüt war am 1. Mai. Das war ein Orchester, das nicht einfach im altbekannten Stil weitermachte. Das neue Orchester – immer noch mit einem klaren, treibenden Puls – war vielschichtiger, differenzierter und technisch ausgereifter. Und es spielte noch schneller! Im Nachhinein kann man feststellen, dass der Orchesterbruch von 1940 es d'Arienzo erlaubte, zu einem komplexeren Stil zu wechseln. Das neue Orchester war sehr stabil, für das folgende Jahrzehnt verliess ihn kein einziger Musiker.

‍    Die erste Aufnahme am 12.4.1940 mit dem neuen Orchester war → Entre dos fuegos - Zwischen zwei Feuern bzw. Im Kreuzfeuer). Dieser Tango wurde bereits 1916 von Canaro aufgenommen. Der Titel bezog sich auf die damalige Situation von Belgien, das im Irrsinn von 1914 zwischen die Fronten von Frankreich und Deutschland geriet. Die Notenblatt-Illustration von damals zeigt eine Schönheit auf einer Bank, die etwas strickt, und zwei Soldaten, die vermutlich ihre Aufmerksamkeit erringen wollen. Wenn man genauer hinschaut, erkennt man die belgische Tracht der Frau, die Männer in französischer und deutscher Uniform und das unsympathische Grinsen des Pickelhaubenträgers. Das Aufnahmedatum dieser neuen Aufnahme hätte treffender nicht sein können – als hätte man es vorausgeahnt, überfiel Deutschland nur ein paar Wochen später (am 10.5.40) Belgien und Frankreich.

‍  Wenn wir in das Stück hineinhören, hören wir die bekannten d'Arienzo-Merkmale; rhythmusbetontes, staccatohaftes Spiel, wiederholt ein kurzer Break, und als Gegensatz immer wieder die ›Jammergeige‹, das Spiel der Solo-Violine auf der vierten Saite. Wir hören dazu ein komplexeres Arrangement, das mit unerwarteten Synkopierungen überrascht. Das Stück kann man in drei Sektionen unterteilen, in der B-Sektion hören wir (bei ca. 0.36) unterhalb des Klavierspiels eine 3-3-2-Synkopierung der Bandoneons und des Basses. Bei ca 1.00 weitere rhythmische Spielereien mit Breaks, bevor es wieder in die Melodie hineingeht. Bei 1.31 das hohe Spiel der Geigen mit einem leichten Decrescendo, bei 1.46 geht es in eine Bandoneon-Variación, wobei das Klavier bei 1.59 bis zum Ende die Führung wieder übernimmt. (1966 spielte d'Arienzo dieses Stück nochmal ein, interessanterweise mit einem deutlich einfacheren Arrangement).


Héctor Mauré – vom Boxer zum Sänger

Wenn ich die drei Perioden (mit Biagi am Klavier, dann die mit Polito, und die mit Salamanca) miteinander vergleiche, so hat jede Periode ihre Stärken und Höhepunkte, aber die Periode nach 1940 bis zum Weggang von Hector Mauré gefällt mir gesamthaft am besten.

D'Arienzo war sich mittlerweile bewusst, dass eine gute Stimme bedeutend für den Erfolg eines Orchesters war. Nach dem Weggang von Echagüe entschied er sich für den Principe rojo - den roten Prinzen. Hinter dem geheimnisvollen Namen versteckte sich der Sänger Enzo Gagliostro. D'Arienzo taufte ihn kurzerhand um in Alberto Reynal und nahm mit ihm 16 Titel auf.

Ende 1940 suchte d'Arienzo einen neuen Sänger. Beim Probesingen in einem Studio von Radio El Mundo kamen viele Kandidaten, die auf den neuen Posten hofften. Fulvio Salamanca, der jeden der möglichen Kandidaten am Klavier begleiten musste, wurde müder und müder. Als gegen Ende der junge Tito Vincente Falivene vorsang, leuchteten seine Augen auf, er schaute zum Meister rüber, der ebenso beeindruckt zurückblickte.

Falivene verdiente bis 1936 sein Geld als Boxer, dann traf ihn ein Schlag im Ring so hart, so dass er damit aufhören musste. Er entschied sich, Gesang zu studieren und Sänger zu werden. Bereits 1938 gewann er bei einem Gesangswettbewerb von Radio Belgrano, wo er sich gegen 5000 Mitbewerber durchsetzte, den ersten Preis.

Falivene bekam vom Meister einen Künstlernamen verpasst: Héctor Mauré, wobei Maure der Mädchenname von d'Arienzos Frau war. Zur exotischen Aufwertung wurde auf den letzten Buchstaben noch ein Akzent gesetzt.

Bereits am 12. Dezember durfte Mauré eine Aufnahme einspielen, den Vals Flor de mal. In der folgenden Aufnahmesitzung am Ende des Jahres durfte er wieder ans Mikrofon mit dem Vals Miedo.

→ Miedo (Vals, rec. 31.12.1040, mit Hector Mauré) – Vergleich mit → Ay Aurora (rec. 14.11.1939 mit Echagüe)

Ich gebe zu – der Vergleich ist nicht ganz fair. Wir hören, dass der Vals von 1939 ein Hopsassa-Vals ist, und auch kein besonders guter. In der Periode mit Polito gab es deutlich weniger Valses als in der Periode davor, und dieser gehört (für mich) nicht zu den wirklich guten Kompositionen. Es geht hier aber in erster Linie um einen Vergleich, um die verschiedenen Charakteristiken der beiden Orchester zu illustrieren. Achte zuerst mal auf die Unterschiede beim Klavierspiel – Polito haut rein und spielt mit Kraft, das Klavierspiel von Salamanca ist deutlich differenzierter, nicht nur in Sachen Lautstärke. Echagüe als Estribillista ist auf gewohnt gutem Niveau, er betritt ab 1.18 die Bühne. Interessant die Version mit Mauré, er setzt deutlich früher ein bei 0.50, bei 1.01 kommt eine gekonnte Dehnung im Gesang (nicht nur dort). Ich möchte es so beschreiben: er spielt mit den Bandoneons und der Violine und unterstützt mit seiner Art des Singens den Dreiviertel-Takt. Der ganze Vals kommt fliessender und deutlich geschmeidiger an das Ohr des Tänzers – eine einzige Einladung ihn zu tanzen! Ab 1.53 kommt Salamancas Klavierspiel in den Vordergrund, abgewechselt von der Bandoneon-Gruppe, die bis zum Schluss dranbleibt. Auch beim Aurora-Vals hört man das Klavier ab etwa 1.48, und in dieser Passage erkennt man (im Vergleich zu Salamanca) den harten Anschlag Politos.

Auch wenn man es bei diesem Vergleich nicht so gut heraushört: vergleicht den Klang der Violine beim Spiel auf der vierten Saite (die ›summende Biene‹). Die Art, wie Alfredo Mazzeo die Geige auf der vierten Saite spielt, ist für mich die schönere. Bei Puglisi im neuen Orchester geht für mich der Klang immer wieder mal zu sehr ins Süssliche, man könnte auch den Ausdruck 'Schluchzgeige' verwenden. Aber das sind Geschmackssachen, und als Tänzer hat man kaum die Zeit, auf solche Feinheiten zu achten.

D'Arienzo hatte seinen Starsänger gefunden – er war ihm so wichtig, dass er Mauré, als dieser mit 20 Jahren den obligatorischen Militärdienst ableisten musste, nach drei Monaten loskaufte. Mauré war eine Bereicherung für d'Arienzos Orchester, und nach dem Urteil von manchen Kennern der beste Sänger in d'Arienzos langer Aufnahmezeit. Mit Mauré verbanden sich der tanzorientierte rhythmusbetonte Stil mit Lyrik, grosser Differenzierungsfähigkeit und emotionaler Tiefe. Ab 1942 war Juan Carlos Lamas der zweite Sänger im Orchester von d'Arienzo. Vergleicht man ihn mit Mauré, hört man ziemlich schnell, dass Mauré entspannter und natürlicher singt.

Mauré blieb bis 1944 bei d'Arienzo und machte insgesamt 50 Aufnahmen. Auch in meiner Meinung war das die fruchtbarste Zeit mit den schönsten Tangos. Die letzte Aufnahme mit ihm war der Tango → Amarras am 21.7.44.

Nachdem d‘Arienzo Alberto Echagüe im Juli 1944 zurück ins Orchester geholt hatte, war bis jetzt die gängige Meinung, dass Mauré von sich aus das Orchester verliess. Laut Lavocah soll aber eine Halsoperation der eigentliche Grund gewesen sein. Mauré kehrte ins Orchester zurück, bevor er ganz genesen war. In der Folge hatte er mehrere Blutungen und war als Folge von Blutarmut längere Zeit ans Bett gefesselt. In dieser Situation war nicht klar, ob überhaupt, oder wann er seine Arbeit wieder aufnehmen könnte. Offiziell verliess er das Orchester im September 1944.

Exkurs Mauré: Er führte seine Karriere weiter, unter anderem bei Radio Belgrano. 1955 wurde er als Anhänger von Perón  von den nachfolgenden Machthabern von allen Radiostationen verbannt.

Lavocah schreibt, dass der Weggang von Mauré ein Wendepunkt in der Geschichte des Orchesters gewesen sei. Mit dem Fehlen von Mauré verlor das Orchester eine wichtige lyrische Komponente – der reizvolle Gegensatz von starkem Rhythmus und gefühlvoll-poetischem Ausdruck, dieses anziehend-bezaubernde Nebeneinander von hart und weich ging verloren. Wir können nur spekulieren, was mit Mauré noch an Aufnahmen herausgekommen wäre. Das Orchester entwickelte sich nach dem Weggang in eine neue Richtung.

Juan d'Arienzo & Hector Mauré 1943 oder früher

IV. Die Zeit nach Mauré und Varela, und der Rest vom Schützenfest

‍    Alberto Echagüe, der Sänger, der bis 1940 der dominierende Sänger des Orchesters gewesen war, wurde von d'Arienzo 1944 wieder zurückgeholt. Hector Varela, der sein kurz davor zusammengestelltes Orchester 1940 d'Arienzo überlassen hatte, wollte endlich sein eigenes Orchester führen, und verliess 1950 d‘Arienzo. Salamanca und Eladio Blanco wurden die Arrangeure des Orchesters. Auffällig ist die mehr als vier Monate dauernde Aufnahmepause nach dem Weggang Varelas, in der sich das Orchester neu finden musste.

‍    D‘Arienzo, der im Gegensatz zu vielen anderen Orchestern nach 1935 mehr instrumental orientiert war und Sänger eher zögerlich ins Orchester integrierte, beschäftigte in seiner beeindruckend langen Aufnahmezeit von 1935 bis 1975 insgesamt 15 Sänger (ohne die beiden Gastsängerinnen Libertad Lamarque 1956 und Mercedes Serrano 1971). In Sachen Aufnahmetätigkeit waren die wichtigsten Alberto Echagüe (drei Perioden mit insgesamt 133 Aufnahmen + 10 Duos, Armando Laborde (ab Dez. 1944) mit 124 Aufnahmen + 21 Duos, und Jorgé Valdez (ab Mitte 1957) mit 103 Aufnahmen + 13 Duos. In künstlerischer Hinsicht gehört zweifellos Héctor Mauré zu den wichtigsten Interpreten, auch wenn er 'nur' 50 Aufnahmen machen konnte.

Alberto Echagüe war einer der Sänger mit grossem Erfolg, er kam bereits 1937 in d'Arienzos Orchester. Den Radio- und Schallplattenbossen gefiel anfänglich sein erdiger Stil nicht, sie bevorzugten Enrique Carbel, aber d'Arienzo hielt an Echagüe fest, auch wenn dieser anfangs am Radio nur je ein Stück pro Set singen durfte. Echagües erste Schallplattenaufnahme war im Januar 1938 Indiferencia, danach stellte sich der Erfolg mit Echagüe immer schneller ein. Echagüe war, im Gegensatz zu vielen Jünglingen, die die Tangobühne betraten, zu der Zeit bereits ein 'gestandener' Mann von 28 Jahren, und laut Lavocah könne man diese Erfahrenheit in seiner Stimme hören. Er charakterisiert ihn als jemand, der ›die Dinge wie ein Mann nähme‹. Laut David Thomas sei Echagüe »not too artistic, did not take control of the tune and was a functional singer who delivered the lyrics on the beat – nicht allzu künstlerisch, ein funktioneller Sänger, der die Lyrik auf den Takt ablieferte.«

‍    Für mich hatte Echagüe ab 1944 und danach nicht mehr die gleiche Qualität wie in den Jahren vor 1940. Etwas hatte sich in seinem Ausdruck geändert, auch wenn ich das nur schwer beschreiben kann.

‍    1951 gab es eine weitere neunmonatige Aufnahmepause bis zum September, die nur teilweise mit dem jährlichen Aufenthalt in Montevideo erklärt werden kann. Was der wirkliche Grund für diese doch recht lange Pause war, habe ich nicht herausfinden können. Alberto Echagüe war zu jener Zeit (immer noch) der wichtigste Sänger (zusammen mit Roberto Lemos, der 1952 von Armando Laborde abgelöst wurde).

‍    Erinnern wir uns – ab 1955 war der Stern des Tango in Argentinien am Sinken, andere Musikrichtungen hatten Vorrang und versprechen den Radiostationen und Schallplattenfirmen mehr Gewinn.

‍    Die letzte Aufnahme mit Echagüe war im März 1957, die Sänger Jorge Valdez und Mario Bustos übernahmen. Für uns als Tänzer ist diese Periode, wie auch die Zeit danach, bis auf wenige Ausnahmen nicht besonders interessant, und so sind Aufnahmen aus der späten Zeit nur selten an heutigen Milongas zu hören. Ab 1956 (bis in die 60er Jahre) gab es bei d'Arienzo nur noch wenige Instrumentaltangos, dem Trend der Zeit folgend sind auch bei ihm die Mehrzahl der Aufnahmen mit Gesang, dazu nicht wenige als Duos – etwas, was es in den früheren Zeiten bei ihm nie gegeben hatte. Ab 1960 kam der Sänger Horacio Palma. Ich finde seinen Gesang übertrieben, dazu schreit er mehr als dass er singt.

‍    Die Plattenfirmen legten in den Jahren danach die Serie 'Tango for Export' auf (ab 1963), oder wie ein Kollege etwas böse meinte: 'Tango para los Gringos'. Das Merkmal, und vielleicht der grosse Vorteil ist, dass auf die Schallplatten nur Instrumentaltangos kamen – dabei viele Neuaufnahmen seiner alten Erfolge. Aber auch Lavocah gibt zu, dass ihnen die Energie früherer Tage fehle (mit englischer Untertreibung: »They feel a bit low in energy«).

‍    Lavocah findet in der späten Aufnahmeperiode immer noch lobenswerte Tangos, z.B. beschreibt er das Album Tango for Export Vol. 2 als 'outstanding'. Na ja – im Vergleich zu den Aufnahmen davor sicher besser – aber siehe oben. Wir haben eine bessere Aufnahmequalität, zusammen mit etwas, das ich ironisch 'Waldbauer-Stereo' nenne – kein räumlicher Klang, aber dafür merkt der hinterste Waldbauer, dass es dieses neuartige ›Stereo‹ sein muss, weil das eine Instrument aus dem einen Lautsprecher, das andere aus dem anderen Lautsprecher tönt...

‍    Juan d'Arienzos Aufnahmezeit dauerte bis 1975 und ist damit eine der längsten in der Tango-Geschichte – wirklich bewundernswert! Er starb im Januar 1976. Der bis ins hohe Alter quirlige Mann, der den Tango den Tänzern zurückgebracht hatte, hat uns ausserordentlich viele gute und tanzbare Aufnahmen hinterlassen.

‍    Von Troilo wird berichtet, dass er seine Musiker in den Senkel stellte, als sie bei einer Gelegenheit über die geradlinige Einfachheit von d'Arienzos Musik lästerten: »Wenn ihr wollt, lacht über ihn, aber ohne ihn wären wir alle ohne Arbeit.«

‍    Das Geniale an d’Arienzos Musik war die ansprechende Tanzbarkeit, aber dafür ist er immer wieder kritisiert worden. Auch heute noch ist der Zuspruch zu d’Arienzos Musik bei manchen (älteren?) argentinischen 'Tango-Experten' zurückhaltend. Auf der führenden argentinischen Tangowebseite Todotango heisst es: »Tango lovers despise d’Arienzo. He is considered as a sort of Tango demagogue. – Tangoliebhaber verachten d’Arienzo. Er wird als eine Art Tango-Demagoge betrachtet.« (José Gobello)

Michael Lavocah antwortet darauf – und ich finde zu Recht: »Man darf sich wundern, wer sich als Tangoliebhaber bezeichnet, wenn Millionen von Tangotänzern nicht zählen sollen?«

Bailemos Tango ! 


‍    Tango-DJ Michael KI                                                                                     letzte Ergänzung 10/2024







Anmerkungen

* ) So, wie sich die Aufnahmen anhören, wurden diese eventuell noch mit dem akustischen Verfahren aufgenommen (trotz des Namens der Schallplattenfirma), aber ganz sicher kann ich nicht sein – sie tönen jedenfalls deutlich schlechter als bei Odeon und Victor.

Ab 1929 wurde Francisco Fiorentino (damals noch Bandoneonist) Teil des Orchesters. Später bei Troilo machte er eine grosse Entwicklung als Sänger und wurde zusammen mit ihm in einem Atemzug genannt. Gesangsmässig trat er bei d'Arienzo nicht besonders hervor, seine gesangliche Meisterschaft erwarb er sich erst bei Troilo. Das kann man auch hören bei seinen kurzen Engagements beim OT Victor, zum Beispiel beim Tango Organito callejero von 1931.


** ) Puñalada ist die Bezeichnung für eine Wunde von einem Puña, einem mit Zacken versehenen Messer. Zur Entstehungsgeschichte von La Puñalada gibt es verschiedene Versionen. Laut anderen Quellen soll diese Komposition deutlich früher zu d'Arienzo gekommen sein. Dies nur als Anmerkung hinsichtlich der Quellen bzw. ihrer Genauigkeit.

Canaro nahm das Stück eineinhalb Monate später in der ursprünglichen Form als Tango auf (der Vergleich mit → dieser Version ist hörenswert). Die Frage, die sich hier stellt, ist: Warum hat Canaro, der 1933 grosse Hits mit seinen Milongas gelandet hatte, dieses Stück als Tango aufgenommen, wenn doch d'Arienzo sich entschieden hatte, das Stück im Milonga-Rhythmus herauszubringen und damit einen Riesenerfolg hatte? – Was viele nicht bedenken, ist die Zeitdauer von Studioaufnahme bis zur effektiven Auslieferung der Platten. Wir müssen im Durchschnitt mit 2-3 Monaten rechnen, manchmal dauerte es noch länger. Woher wir das wissen? Für die Plattenproduktion in den USA gibt es entsprechende Hinweise: z.B. heisst es bei Benny Goodman‘s Sweet Sue, just you ›recorded NY 8.4.1938, released as Victor 26089, issued in November 1938‹. Laut den Angaben eines Swing-Kenners kann man die durchschnittliche Dauer bis zum effektiven Verkauf auf ca. 2 Monate schätzen, aber manchmal ging es auch länger. Und da man annehmen darf, dass RCA Victor in Buenos Aires kaum die bessere oder grössere Fabrik hatte, so darf man auch hier von entsprechenden Zeiträumen ausgehen.

Auch wenn d'Arienzo ein gutes Verhältnis zu Francisco Canaro hatte, darf man sich fragen, ob die Freundschaft so weit ging, dass er mit einem entsprechenden Hinweis sich selber unnötige Konkurrenz schaffen wollte. 1946 spielte Canaro das Stück auch im Milonga-Rhythmus ein, und 1955 noch einmal.

Gemäss der Platten-Etikette soll es sich um eine Milonga tangueada handeln. Dieser grosse Hit wurde von d'Arienzo in den Jahren 1943, ‘51 und '63 nochmal aufgenommen.

Pintin Castellano schrieb in der Folge mehrere Kompositionen, praktisch alle im Milonga-Rhythmus (eine der Ausnahmen war der Tango Don Horacio von 1947).


*** ) In einem späteren Interview Ende der 60er Jahre kommt d'Arienzo darauf zu sprechen: »However, when I am on the stage, I always perform a show. And I don't do it because I'm a funny fellow. I do it because I feel tango like that. It's my way of being.« Und an anderer Stelle: "When I direct I am justifiably natural. And I transform. As I direct I take what I feel. Simultaneously I pass on my feelings to the musicians and they to the public... Before I directed with the baton, now with my own hands: they are more expressive.«



**** ) Es ist sehr schwer, Schallplattenverkaufszahlen zu finden. Auch nach langem Suchen habe ich keine verlässliche Quelle gefunden. Und so ist die Frage, ob die von Lavocah genannte Zahl sich evtl. auf alle Cumparsita-Aufnahmen bezieht. Aber auch dann ist es eine äusserst eindrückliche Zahl. Eine Nachfrage bei Michael Lavocah hat ergeben, dass er sich auf das Begleitheft einer CD bezieht, wo von einer Auszeichnung in den 50er Jahren an d’Arienzo berichtet wird für den Verkauf von 10 Millionen Cumparsitas. Das macht die angegebene Zahl plausibel, wobei ich nach wie vor vermute, dass die Zahl sich auf alle verschiedenen Cumparsita-Versionen bezieht.

Höher, weiter, schneller? – Bei Todotango (in der Biographie zu P. Castellanos; acc. 08/20) wird eine noch höhere Zahl proklamiert. Die Cumparsita-Aufnahme von 1943, 1951 und 1963 (auf der B-Seite war die Neu-Einspielung der Milonga La Puñalada) soll sogar fantastische 18 Millionen mal verkauft worden sein! (wobei man sich auf einen Héctor Ernié bezieht). Muss man da sich nicht unwillkürlich fragen, wie es mit der Verlässlichkeit solcher Quellen bestellt ist?