Osvaldo Fresedo – ›El Pibe de la Paternal‹ (1897 - 1984)

‍    Osvaldo Fresedo war der Sohn eines erfolgreichen Geschäftmannes und einer spanischen Mutter, einer Musiklehrerin, bei der er das Klavierspielen lernte. Durch die Strassen des Viertels zogen die Strassenmusiker mit ihren Organitos (Drehorgeln) und spielten Tangos. Im Elternhaus hörte er vom Grammophon die Tango-Aufnahmen der Tango-Pioniere, der Klang des ihm unbekannten Bandoneons faszinierte ihn. 1912 war ein wichtiges Jahr für ihn.

Osvaldo: »Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was ein Bandoneon ist; ich dachte, es sei so etwas Ähnliches wie ein Cello, aber es wurde so viel über das Bandoneon geredet und ich war so fasziniert von diesem Klang, der von den Platten kam, dass ich es sehen wollte. Eines Tages kam ein Orchester in ein kleines Café, das hatte... was? 8 mal 12 Meter oder so. Es gab viele Tische, und es war voller Leute, aber wir fanden einen kleinen Tisch. Wenn man 15 oder 20 Cent zum Preis des Essens hinzulegte, bekam man eine Nummer. Mit dieser Nummer wurde in der Mitte der Attraktion, die das Orchester darstellte, eine Flasche Anisette oder Cognac verlost. Dort spielte Augusto P. Berto auf dem Bandoneon; ich erfuhr von den anderen, dass es Berto war, denn das Bandoneon interessierte mich. Ich wusste auch, dass die Geige von ›Pirincho‹ Canaro gespielt wurde und die Gitarre von Domingo Salerno.« (Zusammenzug aus zwei Interviews mit O. Fresedo) 

Er war von dem Klang des Bandoneons so angetan, dass er die Wirtschaftsschule verliess, sich ein kleines Bandoneon (mit 50 Tasten) besorgte und sich auf das Erlernen dieses schwierigen Instrumentes konzentrierte – zum grossen Entsetzen seines Vaters. Der wollte, dass seine Söhne ihm im Geschäft nachfolgen. Der junge Osvaldo wurde aus dem Haus verstossen. Er musste Arbeit finden, um sich durchzubringen, und wurde, wie Firpo und Canaro, Anstreicher.

Abweichend zu manch anderem familiären Tango-Zerwürfnis hatte der Vater mit der Zeit ein Einsehen, weil er erkannte, dass der junge Osvaldo es ernst meinte mit der Musik. Er kaufte ihm ein grosses Bandoneon und liess ihn wieder zu Hause einziehen. Als Osvaldo das schwierige Instrument gut genug spielte, gründete er 1912 zusammen mit seinem älteren Bruder Emilio, der Geige spielte, und einem Gitarristen ein Trio, das in den Bars und Cafés in der Nachbarschaft auftrat. Als das Trio erste Erfolge feierte, eröffnete der Vater kurzerhand selbst ein Lokal, damit die Söhne nicht mehr nächtens durch ganz Buenos Aires ziehen mussten! 

Osvaldo wurde ›El Pibe – der Junge‹ genannt, aber auch Pedro Maffia nannte man ›El Pibe‹. Das gab Unterscheidungsprobleme. Damit man die beiden auseinanderhalten konnte, nannte man Maffia ›EI Pibe de Flores‹, Osvaldo erhielt den Spitznamen 'El Pibe de la Paternal - der Junge vom Paternal-Viertel'.

Seine erste, bis heute oft gehörte Komposition ist EI Espiante - der Flüchtende (espiantar - rennen, fliehen). Zu Beginn hören wir das Läutewerk der Dampflok, den Abfahrtspfiff, das bestätigende Pfeifen der Dampflok, dann machen die Musiker lautmalerisch das Zischen und die anfahrende Dampflokomotive nach und vermittelt das Bild des mit dem Zug Flüchtenden. Das ganze Stück ist im Rhythmus einer fahrenden Dampflok gehalten, immer wieder mal hören wir die  Pfiffe der Dampflok, am Schluss wird das Bremsen und Anhalten des Zuges nachgeahmt. → El Espiante 1933 (Fresedo nahm dieses Stück fünf Mal auf: 1927, 1932, 1933, 1955 und 1979).


1917 spielte er im legendären Karneval-Orchester von Francisco Canaro und Roberto Firpo, das ein grosses Instrumentarium mit zwei Klavieren, fünf Bandoneons, fünf Geigen, Klarinette und Flöte und Kontrabass umfasste.

1918 oder ‘19 gründete Fresedo sein erstes eigenes Sextett. Bald spielten bei ihm spätere Tango-Grössen wie Miguel Caló oder Carlos di Sarli. Auch Julio de Caro, der später als 'Revolutionär' des Tango betrachtet wurde, spielte ab 1920 (lt. anderen Berichten schon früher) in seinem Orchester. 

In einem Bericht wird erwähnt, dass Fresedo es war, der um 1920 herum als Erster das Staccato-Spielen des Bandoneons, das ein Melodie-Instrument war, einführte und ihm damit eine zusätzliche rhythmische Aufgabe zudachte. Auch andere Techniken wie gemeinsame Crescendi des Orchesters werden ihm zugeschrieben. Enrique Binda macht in seinem Artikel bei Todotango die Anmerkung, dass manche der Techniken, die Julio de Caro als ›dem grossen Erneuerer des Tango‹ nachgesagt werden, bereits vorher von anderen eingeführt wurden. Diese Spielweisen werden in den folgenden Jahren von den anderen Tango-Orchestern übernommen. 


Die Schallplattenfirma Victor (die mit dem Hund vor dem Grammophon) kam erst 1924 nach Buenos Aires. Um der Schallplattenflut von Firpo und Canaro, die zu jener Zeit bei Odeon unter Vertrag standen, etwas entgegen zu setzen, wurde 1920 Fresedo, zusammen mit anderen Musikern, von Victor nach New York eingeladen, wo sie unter dem seltsamen Namen Orquesta Tipica Select auftraten. Sie hatten insofern Erfolg, als dass sie im Radio und in Cabarets spielten und etwa 50 Schallplattenaufnahmen machen konnten. Aber NY war die Stadt des Jazz, und Tango hatte bloss die Anziehungskraft von etwas Neuem, Exotischem. In einem Cabaret wurden sie als ›Argentine Indians from the Pampas‹ wilde Indianer aus der Pampa angekündigt. Fresedo sollte im Gaucho-Kostüm auftreten, und Enrique Delfino, der Klassik liebende Komponist (!), musste halbnackt, um den Eindruck des Wilden aus der Pampa zu unterstreichen, mit einem Bein ans Klavier gefesselt spielen. Die Musiker kehrten bald ins geliebte Buenos Aires zurück.


Fresedo war zu der Zeit sehr erfolgreich, begeisterte sich für Pferderennen und konnte sich mit dem verdienten Geld ein Flugzeug kaufen. Er leitete drei Sextette: eins im Cabaret Tabaris, das zweite im Casino Pigall und das dritte in der Bar Fresedo. Anlässlich der Einweihung des Kinos Fénix erhielt er das verlockende Angebot, auch dort zu spielen. Fresedo lehnte höflich ab, weil das für ihn aus Zeitgründen kaum noch möglich sei. Der Inhaber schlug ihm daraufhin vor, dass er ein neues Orchester zusammenstellen und er nur in der Pause auftauchen sollte.

Fresedo stellte ein viertes Orchester zusammen und bat Carlos di Sarli es zu leiten. Er hatte di Sarli vorspielen gehört und war von ihm beeindruckt. Mit nunmehr vier Orchestern stand Fresedo Abend für Abend ziemlich unter Stress, eilte mit dem Auto von einem Ort zum nächsten und verbrachte dort, je nach dessen Prestige, mehr oder weniger Zeit. (Canaro hatte ein ähnliches geschäftsorientiertes Modell). Er fuhr vor das Kino, um rechtzeitig zur Pause zu kommen. »Fresedo selbst erschien nur flüchtig, spät in der Nacht. Er nahm das Bandoneon, spielte ein wenig gemeinsam mit uns und nutzte dann die Dunkelheit im Saal, um zu verschwinden.« (Oscar Zucchi)

Es folgten 1928 Tourneen mit dem Sänger Ernesto Famá nach Europa, bis 1929 spielte er in Belgien und vor allem in den namhaften Clubs in Paris. Davon gibt es keine Aufnahmen. 1930-32 folgte ein weiterer Aufenthalt in New York, wo er ein paar wenige (schwer erhältliche) Aufnahmen beim Label Brunswick machte.

Die Zeit ab 1933

‍ Recht selten wird in den Biografien erwähnt, dass Fresedo einer der ersten war mit einem klar melodiebetonten, weichen Stil. Beeinflusst vom Stil der amerikanischen Bigbands folgten in Buenos Aires Aufnahmen, die in ihrem Stil komplett verschieden waren von denen der 20er Jahre. Hör Dir z.B. → Cordobesita von 1933 an. 

Die meisten anderen Orchester von 1933-34 spielten weiterhin den rhythmusbetonten, härteren Stil. Erst ein paar Jahre später folgten andere Orchester, die die Melodie in den Vordergrund setzen. Er beeinflusste spätere Orchesterleiter wie Miguel Caló, Carlos di Sarli und Florindo Sassone.

Wenn man seinen Musikstil nach 1933 beschreiben will, fallen Wörter wie elegant und romantisch, aber auch süss. Es sind die Aufnahmen zwischen 1933 - 45, die wir meistens an den Milongas, oft mit seinem Starsänger Roberto Ray (eine Verkürzung von Roberto Raimondi), ab 1939 mit Ricardo Ruiz, zu hören bekommen.

Fresedo ist relativ einfach zu erkennen, nicht nur anhand des Stils, sondern auch anhand der eingesetzten Instrumente: ab April 1934 (En la huella del dolor) hören wir bei ihm eine Harfe, und wenn wir genau hinhören, auch ein Vibraphon, das meistens sehr dezent gespielt wird, um vereinzelte Farbtupfer im Orchesterklang zu setzen. Man sagt, dass Fresedo Harfe und Vibraphone bei seinem Aufenthalt in New York schätzen gelernt hatte, mehr bei den Auftritten der Big Bands als bei den kleinen Besetzungen in den verrauchten Bars. 

Ab 1940 kann man ein Schlagzeug hören. Aber auch dies setzte er zum Glück nur sehr dezent ein – ein durchgehendes Schlagzeug hätte den besonderen Rhythmus des Tango mit seinen Dehnungen und Beschleunigungen eintönig platt geklopft. Das Schlagzeug hat bei ihm eher eine dramaturgische Funktion, so wie bei sinfonischer Musik auch. → Ronda de Ases 1942 (ab 5. Sekunde)


Interessant ist, wie Fresedo die Bandoneons einsetzt. Das Flaggschiff des Tango-Klangs, für viele andere Orquesta Tipica nach wie vor Stütze der Musik und gerne in Szene gesetzt, wird bei Fresedo zur 'Klangfarbe' und weitgehend in die Streicher-Arrangements integriert. Sie sind selten im Klang-Vordergrund. Das ist insofern interessant, da Fresedo bis 1939 noch selbst sein geliebtes Bandoneon spielte. Danach beschränkte er sich auf die Leitung und Organisation des Orchesters.

Obwohl Fresedo selber Bandoneon spielte, stehen die Geigen in Fresedos Klangwelt im Vordergrund. Er positionierte sie daher auf der Bühne gerne vor den Bandoneons – schöne Geigenarrangements, verwoben mit Gegenmelodien, einmal legato (mit Bogenstrich), dann staccato oder gezupft (pizzicato). Ein wichtiger Zugang für das Fresedo-Orchester war 1942 Elvino Vardaro, den manche als den besten Tango-Violinisten bezeichnen. Dieser blieb zwar nicht allzu lange und kehrte erst in den 60er Jahren wieder zu Fresedo zurück.


In den späteren Aufnahmen hört man das Vibraphone deutlicher und das Schlagzeug immer öfter, z.B. auf der CD Apasionado mit Aufnahmen von 1951-57 (Reliquias). Der Streicherteppich ist symphonisch dicht, aber das ist auch bei den Aufnahmen von di Sarli aus jener Zeit so. Es scheint eine allgemeine Entwicklung dieser Zeit zu sein. Fresedo überrascht auf dieser CD mit zum Teil ungewöhnlichen Harmonien (z.B. Y total para que) und einer weniger als zwei Minuten kurzen, aber interessanten Milonga (→ La guitarrita milonguera) mit ungewöhnlichen Violinläufen und einem fast durchgehend zu hörenden Schlagzeug. 

‍ Werde ich die Musik dieser CD an einer Milonga auflegen? Nein, die CD ist mehr zum Zuhören und (wie viele seiner späteren Werke) zum Tanzen weniger geeignet. Symphonische Streicherteppiche, wie sie in den späten 50er Jahren und danach bei verschiedenen Tango-Orchestern (bei José Basso, Sassone, aber auch Troilo und einigen anderen) vermehrt eingesetzt werden, und die den Klang der anderen Instrumente zukleistern, sind nicht mein Ding. Aber was mich selbst überrascht – je länger ich die CD höre, desto interessanter finde ich sie ... Fresedo ist offensichtlich experimentierfreudig und hat den Mut zu recht ungewöhnlichen Harmonien. Als einer der ersten nimmt er auch avantgardistische Stücke von Astor Piazzolla in sein Repertoire auf und zeigt seine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Entwicklungen – »und das in Zeiten, als seine Kollegen die Zähne fletschten, wenn sie nur den Namen des Autors von Adis Noñino hörten« (Salas).


Zu den Experimenten gehören auch die Aufnahmen mit dem Jazzmusiker Dizzy Gillespie 1956. Die bekannteste ist → Vida mia. Hier eine weitere, recht selten gehörte Aufnahme → Capricho de Amor. (Das genaue Aufnahmedatum scheint nicht sicher zu sein. In einer mir vorliegenden Discographie wird 1957 genannt – vermutlich nicht das Jahr der Aufnahme, sondern das Erscheinungsjahr der Platte. Die Überspielung auf CD ist leider mangelhaft.)



‍      Die Aufnahmen vor 1933

Für manche Tänzer, die vor allem die melodiösen, an den Milongas am meisten gespielten Aufnahmen ab 1933 kennen, sind vermutlich die Aufnahmen bis 1932 mit ihrem klar rhythmusbetonten Stil eine Überraschung. Sie waren es auch für mich. Sie haben die Spielelemente, die man alle auch bei de Caro findet. Aus dieser Zeit bis 1932 gibt es noch einiges zu entdecken, viele Aufnahmen wurden nicht auf CD bzw. nur auf japanischen Sammler-CDs veröffentlicht und sind recht schwer erhältlich. Ein guter Einstieg zu Fresedos Stil vor 1933 ist die CD vom rgs-Label 20 grandes exitos 1927-28.

Es ist ein kräftiger, eher langsamer, rhythmisch betonter Stil. (z.B. Carta blanca von 1927, Rivas 1928, Re Fa Si 1928, das später auch von Biagi, Canaro, di Sarli und de Angelis aufgenommen wurde). Lavocah beschreibt es als Musik 'with meat and bite' - mit Kraft und Biss. 


Auch wenn wir uns hier vor allem auf die gängigen Rhythmen wie Tango, Milonga und Vals beschränken, so sollte man nicht vergessen, dass Fresedo (wie viele der anderen bekannten Tango-Orchester) auch andere Rhythmen aufnahmen, wie z.B. Foxtrot, Ranchera, Candombe, Pasodoble, aber auch so Exotisches wie Shimmy, Son cubano und Conga (was ein Modetanz der 30er und 40er Jahre aus Cuba gewesen sein soll).


Fresedo war sehr lange im Geschäft, seine letzte Aufnahme machte er 1980, aber die späteren Aufnahmen interessieren uns Tangotänzer kaum mehr. Fresedo starb 1984 und hinterliess die hohe Zahl von über 1250 Aufnahmen (nur Canaro und Firpo hatten mehr aufgenommen). Die schönsten Tangos sind, wie ich finde, zwischen 1933 - 45 entstanden, mit nur sehr wenigen Durchhängern. 


Kurze Zusammenfassung 

Fresedos Schaffen können wir in drei bis vier Perioden einteilen: die frühen Jahre bis 1932 im alten Stil. Ab 1933 folgte der deutlich erkennbare Wechsel zu einem melodiös geprägten, streicherbetonten, eleganten Stil. Sein Orchester kann man gut am Klang erkennen: Die Violinen stehen bei ihm im Vordergrund, der Orchesterklang wird mit Farbtupfern von Harfe und Vibraphon gewürzt. Soloeinlagen sind bei ihm selten. 

Ab etwa 1950 wird der Stil weicher und zuckriger und ist für uns Tänzer nur noch von begrenztem Interesse. Milongas und Valses spielen in Fresedos Repertoire eine untergeordnete Rolle, auch gibt es bei ihm nur wenige Instrumentaltangos. Wenn man will, kann man als vierte Periode die kurze Zeit der Experimente mit Dizzy Gillespie noch hinzunehmen.


Nachtrag - Hinweise zum Repertoire: 

Wenn man die Liste der Aufnahmen von Fresedo anschaut, sieht man, dass es auf der einen Seite der Schallplatte einen Tango, auf der anderen Seite einen anderen Rhythmus gab, wie zum Beispiel Pasodoble, Rumba, Ranchera, Son cubano und vor allem der zur jener Zeit beliebte Foxtrot. Ob das ein blosser Geschäftstrick der Schallplattenfirma war, damit die Tangoliebhaber für zwei Tangos gleich zwei Platten kaufen mussten, oder ob es daran lag, dass die 'otros ritmos' zu jener Zeit ebenso beliebt waren wie der Tango, kann im Nachhinein kaum eindeutig belegt werden. Jedenfalls verfolgte Fresedo bzw. die Schallplattenfirma dieses Schema lange weiter. Erst im Februar 1935 kam die erste Platte heraus mit zwei Tangos (Pampero, und auf der B-Seite die europäische Komposition Isla de Capri). Aber auch in den folgenden Jahren waren zwei Tangos auf einer Platte die Ausnahme.

Hier als Veranschaulichung der otros ritmos zum Reinhören der Foxtrot Dulce Susana von 1937, im englischen Sprachraum bekannt als Sweet Sue – wie ich finde, eine originelle Interpretation von Fresedo. Dazu als Vergleich eine Version von Sweet Sue von Tommy Dorsey 1935.





Fresedo war (im Gegensatz zu di Sarli) auch im Filmgeschäft sehr erfolgreich – allein bis 1936 hörte man Fresedos Orchester in 14 Filmen (z.B. 1935 in El Dia que me quieras (mit → Volver), Tango Bar, Besos brujos (mit dem gleichnamigen Tango), La Fuga (mit → Niebla del Riachuelo), u.v.a., die seine Musik einem breiten Publikum bekannt machte.


2020 kamen bei TangoTimeTravel neue, sorgfältig gemachte Transfers der Fresedo-Aufnahmen von 1933-1939 heraus. Wenn die Überspielungen von Tango Tunes bereits gut waren, so sind die von TTT noch eine Spur besser. 

Wie bereits erwähnt, setzte Fresedo ab April 1934 Harfe und Vibraphon als neue Instrumente ein. Der erste Tango mit diesem Instrumentarium war 'En la huella del dolor'. Mit diesen Instrumenten gab es einen Wechsel der Stimmung auf 440 Hz (davor war der Grundton A bei 435 Hz). Fresedo war von einer Geschäftsreise aus New York zurückgekommen, wo der Grundton von 440 Hz bereits Gepflogenheit war (in Europa war zu der Zeit  die 435 Hz-Stimmung weiterhin üblich; erst ab 1939 wechselte man nach der Londoner Konferenz langsam auf 440 Hz). 

In den Anmerkungen von TangoTimeTravel zu den Fresedo-Neuüberspielungen liest man, dass das neu gekaufte Vibraphon und das Klavier der Grund war, warum man die Instrumente des übrigen Orchesters auf 440 Hz umstimmte. Das Vibraphon war ein in den USA entwickeltes Instrument und wurde mit der in den Vereinigten Staaten bereits üblichen Stimmung von 440 Hz ausgeliefert. Der Grundton von 440 Hz war dort bereits Gepflogenheit. In Europa war zu der Zeit die 435 Hz-Stimmung weiterhin üblich; erst ab 1939 wechselte man nach der Londoner Konferenz langsam auf 440 Hz. Die Untersuchungen zur Bestimmung der korrekten Überspielgeschwindigkeit zeigen klar, dass bei Fresedos Orchester die Stimmung bis 1933 bei 435 Hz lag, und ab ab April 1934 bei 440 Hz.

Auch wenn es einfacher gewesen wäre, Vibraphon, Harfe und Klavier auf 435Hz zu stimmen als mehrere Bandoneons auf 440 Hz hoch zu stimmen, entschied sich Fresedo als einer der ersten für das Hochstimmen – früher als andere Tango-Orchester. Der erste Tango mit diesem Instrumentarium und der höheren Stimmung war 'En la huella del dolor' (aufgenommen am 27.4.1934).

Das Umstimmen eines Bandoneons ist eine verzwickte Sache. Bei einem Bandoneon Rheinischer Lage muss der Stimmer 280 Zungen (138 × 2 + 4) zum Hochstimmen vorsichtig abfeilen, er darf auch nicht zu viel des Materials wegnehmen, sonst wird die Arbeit noch schwieriger. Ein Bandoneonstimmer braucht laut der Aussage eines Bandoneonisten-Freundes für das Umstimmen drei oder mehr Tage.

Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass die Musiker, falls nötig, verschieden gestimmte Bandoneons hatten.


Beim Konkurrenten Odeon war der Wechsel von 435 Hz auf die höhere Stimmung von 440 Hz in kürzerer Zeit. Vom 29.11. bis 7.12.1943 gab es bei Odeon eine Aufnahmepause, das erste Orchester mit einer 440 Hz-Aufnahme war Biagi am 7.12.43, zwei Tage später folgte Laurenz; Caló und Canaro wechselten ebenfalls im Dezember auf die höhere Stimmung. Im Januar folgte Demare, und als Nachzügler Pugliese am 31.3.1944.

Interessant ist, dass im heutigen Argentinien laut dem erwähnten Bandoneonisten sich bei den Musikern mittlerweile eine Stimmung A = 442 Hz durchgesetzt hat. Falls auch in Südamerika wie in Europa mit der Zeit auf 444 Hz hochgestimmt wurde (das ist eine nachvollziehbare Vermutung, ich habe aber nicht nach Belegen dafür gesucht), hätten viele der höher gestimmten Bandoneons wieder nach unten gestimmt werden müssen, was eine noch schwierigere Aufgabe für den Stimmer ist. Andere sagen, dass der geringe Unterschied von den meisten Menschen gar nicht erkannt wird.


Exkurs Verschiedene Stimmungen

Wenn wir feststellen, dass der Kammerton A von 435 Hz auf 440 und 444 Hz angehoben wurde, bleiben wir auf der Oberfläche der blossen Beschreibung. Wenn wir uns näher mit dem Phänomen der Schwingungen und der Wirkung auf den Menschen befassen, tauchen wir in ein äusserst faszinierendes Feld. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Standardwerk von Joachim-Ernst Behrendt: »Die Welt ist Klang« hinweisen, in dem er zeigt, dass es für den Menschen alles andere als unerheblich ist, in welcher Stimmung ein Instrument schwingt.

Ein kleines Beispiel, an anderer Stelle gefunden, mag das veranschaulichen. Der Kammerton A 440 Hz soll laut Gehirnforschung (Institut für Kommunikation und Gehirnforschung, Haffelder, Stuttgart) Nervosität und Aggression fördern, er wirke negativ auf das Zusammenwirken der Gehirnhälften. Haffelder erzielte mit einer Musiktherapie bei 432 Hz grosse Erfolge bei Lernschwäche; bei 432 Hz würden die Gehirnhälften über das Corpus Callosum gesund und harmonisch koordiniert und dadurch die Lernfähigkeit drastisch verbessert. Auch Rudolf Steiner unterstützte diese Stimmung.

Mit Hilfe moderner Technik kann die Wirkung der verschiedenen Stimmungen anhand von Wasserklangbildern veranschaulicht werden. Das linke Bild zeigt bei einer Frequenz von 432 Hz ein harmonisches Bild, die Erhöhung um acht Hz auf 440 Hz führt zu einem ganz anderen Schwingungsmuster. Das unterstützt die Aussagen von Hafffelder und der Gehirnforschung.

Und so gibt es eine starke Bewegung bekannter Persönlichkeiten, die fordert, auf die  Stimmung von 432Hz zurückzukehren. (Giuseppe Verdi, Fischer-Dieskau, Peter Schreier, L.Pavarotti, Renata Tebaldi, Placido Domingo u.v.a.)


Was war der Grund für die Erhöhung des Kammerton A? 

Eine gültige und schlüssige Antwort werden wir vermutlich nicht finden. Als Grund für das Hochstimmen wird angeführt, dass ein Orchester angeblich brillanter klänge. Die Gegner erheben den Einwand, dass die vermeintliche Brillanz, die 440 Hz (und höher) bringen soll, nicht den Tatsachen entspricht, denn der Ton verliert Obertöne, wird also nur schneidender. Bei historischen Instrumenten, die für die Alte Musik (›Early Music‹ im englischen Sprachraum) wie die Elisabethanische Consortmusik verwendet werden, ist die Stimmung oft bei 415 Hz. Aus eigener Erfahrung bei vielen Konzerten kann ich bestätigen, dass die Instrumente angenehm schön und obertonreich-silbrig tönen. Die beschworene Brillanz hat m.E. wenig mit einer Stimmung von 440 Hz oder höher zu tun, sondern eher damit, wie ein Instrument gebaut wurde.

Es gab immer wieder kritische Stimmen von Musikern und Komponisten, die sich gegen dieses Hochstimmen aussprachen. Bereits Enrique Caruso hatte sich über das hohe Stimmniveau im Orchester der Wiener Staatsoper geärgert. Karl Delseit (Gründer des Deutschen Bachorchesters in Köln) sei laut Erzählungen seiner Gattin Elisabeth ›in ohnmächtiges Entsetzen gefallen‹, als er feststellte, dass während der Kriegsjahre der Kammerton von 435 auf 440 Hertz angehoben worden war. Auch Furtwängler und Richard Strauss waren mit dieser Änderung nicht einverstanden. Strauss kommentierte die gestiegene Höhe des Kammertons 1942 so: »Die hohe Stimmung unserer Orchester wird immer unerträglicher. Es ist doch unmöglich, dass eine arme Sängerin A-Dur-Koloraturen, die ich Esel schon an der äussersten Höhengrenze geschrieben habe, in H-Dur herausquetschen soll…« Knarajan (mein Verschreiber ist absichtlich) war bekannt dafür, sein Orchester noch höher zu stimmen.

Wie bereits angemerkt: ein Thema, über das man bereits seit Jahrhunderten streitet… Hier ein Link mit einer unvollständigen Übersicht über das Wirrwarr der verschiedenen Stimmungen durch die Zeit. Die verschiedenen internationalen Konferenzen zur Festsetzung eines einheitlichen Grundtons (1858 Paris mit 435 Hz, 1885 Wien mit 435 Hz, London 1939 mit 440 Hz) waren (letztendlich vergebliche) Versuche, den Wildwuchs der verschiedenen Stimmungen einzudämmen.

Dulce Susana von Fresedo und Sweet Sue von Tommy Dorsey zum Vergleich, beide in sehr guter Klangqualität.

Wasserklangbild bei verschiedenen Stimmungen

    Bailemos Tango ! 


             Tango-DJ Michael KI                                       08/2020   Nachträge 2022 & 2024



Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen

zusätzlich: – https://en.wikipedia.org/wiki/Osvaldo_Fresedo 

                 – https://www.todotango.com/english/history/chronicle/498/Orquesta-Tipica-Osvaldo-Fresedo/

                 – https://www.todotango.com/english/history/chronicle/335/Fresedo-Interview-to-Osvaldo-Fresedo-in-1976/

                 – www.todotango.com/english/history/chronicle/335/Fresedo-Interview-to-Osvaldo-Fresedo-in-1976

                 – www.fresedo.de/2021/05/interview-with-oscar-del-priore.html

                 – www.fresedo.de/2021/05/fresedos-famous-time-1923-1928.html


Discographie ab 1926: https://www.el-recodo.com/music?O=Osvaldo%20FRESEDO&lang=de


Quellen Verschiedene Stimmungen

                 – http://jens-ingo.all2all.org/archives/285

                 – https://bando-bando.de/bandoneonstimmung.html

            – Joachim-Ernst Behrendt: »Nada Brahma – Die Welt ist Klang« (zuerst erschienen 1983)

            – https://www.magicaqua.de/10-0-Wasserklangfotos.html