Portrait Francisco Canaro

Francisco Canaro (1888 - 1964)
›Pirincho, der Kaiser‹

Wie ich von einem älteren Tango-DJ aus Buenos Aires hörte, ist die Musik von Francisco Canaro dort nicht sonderlich beliebt und wird recht selten aufgelegt. In einer Umfrage des DJs ›Supersabino‹ bei 80 Kollegen wurde Canaro zum am meisten überschätzten Tango-Orchester gewählt. Die Kritiker des argentinischen Tango-Establishments weisen auf Canaros »Mangel an künstlerischem Temperament« hin, und Francisco Garcia Jimenez (ein Textdichter jener Zeit) lästerte über Canaro, er könne »keine einzige Note von Bedeutung in die Interpretation der Musik von Buenos Aires einbringen«. 

Ich gebe zu, auch bei mir gehört Francisco Canaro zu den eher selten gespielten Interpreten. Im Vergleich zu den Interpretationen der Spitzen-Orchester fällt seine Musik ab, ein Rezensent bescheinigt ihm ›musikalische Mittelmässigkeit‹. Und wenn mir ein Titel von Canaro gefällt, schaue ich zuerst nach, ob das Stück vielleicht auch von Francisco Lomuto eingespielt wurde. Lomuto ist mit seinem ähnlichen Stil nicht nur für mich musikalisch ›der bessere Canaro‹.

Nach diesen einleitenden Worten wird es manchen Leser vielleicht erstaunen, dass Francisco Canaro der Musiker mit dem grössten kommerziellen Erfolg und mit den am Abstand meisten Plattenaufnahmen war – weit vor Osvaldo Fresedo und Juan d‘Arienzo. Der gerne sich selbst rühmende Canaro erzählte von etwa 7000 Schallplattenaufnahmen. Diese phantastische Zahl wird von argentinischen Quellen anscheinend ungefragt übernommen.

Laut der akribischen Discographie von Christoph Lanner sind es jedoch immer noch beeindruckende 3799 Schallplattenaufnahmen (bis 1964). Dabei muss man sehen, dass Canaro die gleiche Komposition über die Jahre wiederholt aufnahm. Als eines von vielen Beispielen mag Sentimiento Gaucho dienen, das er 1924, 1927, 1930 drei Mal (zwei Mal davon mit Ada Falcon) einspielte, dann 1940, 1947, 1951, und 1961 zweimal.

‍    Er verwendete alte Tangos, benannte sie um und änderte ihre Namen erneut, wenn er sie mit Texten versah. So stammt gemäss N. Pinsón und J. Nudler von Todotango sein symphonischer Tango Pájaro azul von seinem früheren Nueve puntos ab, Halcón negro von 1932 hiess zuvor La llamada und wurde mit Text zu Rosa de amor.

Ein weiteres Beispiel für die ‘musikalische Wiederverwertung‘ ist → Viejo Gaucho, eine Komposition von Mario Canaro. Sie wurde 1938 von seinem Bruder Rafael Canaro in Paris auf Platte gebracht. Bei Francisco wurde der ‘Alte Gaucho‘ 1939, noch ohne Text und etwas schneller gespielt, zu → Quiero verte una vez mas. → Biagi folgte im Juli 1940 mit dem Text von J. M. Contursi, einen Monat später spielte Lomuto → seine wunderbare Version mit Fernando Diaz ein – in meinen Ohren die schönste Interpretation. 1950 machte → Pugliese seine Aufnahme mit der ihm eigenen dramatisierenden Spielweise.

Canaro nahm alles auf, was ihm zwischen die Finger kam. Aber dank dieser Geschäftstüchtigkeit können wir auch Titel hören wie → Triste Domingo, einer Adaption der ungarischen Komposition ›Szomorú Vasárnap‹, das international ein grosser Hit wurde, im englischen Sprachraum bekannt als ›Gloomy Sunday‹ – ein Titel, über den man allein eine ganze Geschichte schreiben könnte. Korrektur: Es soll nicht Canaros Orchester gewesen sein, das Mercedes Simone begleitete. Jedoch nahm Canaro diesen Titel 1937 mit Roberto Maida ebenfalls auf.

Triste Domingo (Gloomy Sunday) mit Mercedes Simone. Dieses Lied wurde 1941 durch die Version von Billie Holiday bekannt. Wer weiss, dass dieses Lied von der BBC verboten wurde? Dieses Verbot wurde offiziell erst 2002 aufgehoben.
Canaro mit zwei seiner Musiker 1916 in Porto Alegre, Brasilien. Gemäss Webseite Ch. Lanner: von links nach rechts: Violinist und Flötist sind unbekannte Musiker aus Porto Alegre; Francisco Canaro (Violine); Leopoldo Thompson (Gitarre); sitzend: Pedro Polito (Bandoneon). Die anderen Personen: Francisco Schultz (Techniker); Alfredo Améndola; Savério Leonetti (Besitzer der Fabrik).

Die frühen Jahre

Francisco Canaro (eigentlich Francisco Canarozzo) wurde 1888 in San José de Mayo, einer kleinen Stadt in der Republica Oriental del Uruguay, geboren, wo sein Vater Friedhofswärter und für die Strassenbeleuchtung verantwortlich war. 

Bei seiner Geburt schmückten Francisco viele Haare und ein abstehendes Haarbüschel. Sara, die Freundin seiner Mutter, die der Hebamme half, rief bei seinem Anblick aus: »Er sieht aus wie ein Pirincho!« (aus Canaros Memoiren)

Die zehnköpfige Familie Canarozzo überquerte gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Rio de la Plata und zog nach Buenos Aires. Sie lebten in grösster Armut in einem überfüllten Zimmer eines Conventillos (Miethauses) und kämpften um das Nötigste. Da das Einkommen des Vaters, der sich als Maurer verdingte, nicht ausreichte, musste Francisco bereits mit zehn Jahren(!) als Schuhputzer und Zeitungsjunge zum Unterhalt der Familie beitragen. Wegen der drückenden Armut musste er jede Arbeit annehmen. Später pinselte er als Wandmaler und machte eine Lehre in einer Olivenöl-Dosenfabrik.

In ihm brannte der Wunsch, Musiker zu werden, jedoch fehlten ihm die Mittel und die Mentoren, die Canaro auf dem Weg der Musik unterstützten und für eine musikalische Ausbildung sorgten. Mit Hilfe eines Freundes baute er aus einer leeren Ölkanne und einem Griffbrett aus Holz so etwas wie eine Geige und begann, das Instrument ›nach Gehör‹ zu spielen. Mit dem selbstgebastelten Instrument schloss er sich mit anderen Jugendlichen zusammen. Mit ihnen musizierte er bei den Tanzveranstaltungen und Familientreffen, die im Umkreis des Conventillos stattfanden, und verdiente so etwas Geld. Mit achtzehn Jahren erfüllte er sich den Traum einer richtigen Geige und kaufte seine erste Geige, ein ramponiertes Instrument, dessen Klang dem günstigen Preis entsprochen haben dürfte.

Mit dieser Geige debütierte er 1906 mit zwei Freunden, von denen der eine Mandoline, der andere Gitarre spielte, in einem abgelegenen Dorf weit weg von Buenos Aires. In der Provinz ging es rauh zu. Wie er in seinen Memoiren schrieb, liessen verirrte Pistolenkugeln, die die hölzerne Loge durchschlugen, auf der die Musiker sassen, noch ›fünfzig Jahre später seine Haare zu Berge stehen…‹

Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass zu jener Zeit der Tango als verrufene Musik der Unterschicht galt, die mit schäbigen Bars, illegalem Glücksspiel in Hinterzimmern und Bordellen in Verbindung gebracht wurde. Dennoch entschied Canaro sich in jener Zeit, auf den Tango zu setzen.

1908 kehrte er der Provinz den Rücken, um in der Hauptstadt Buenos Aires Wurzeln zu schlagen. Er schloss sich verschiedenen Trios und Ensembles an, die zu jener Zeit mit Vicente Greco, Agustin Bardi, Roberto Firpo und anderen Pionieren des Tangos um die Gunst des Publikums kämpften.

Nachdem er ein paar Jahre im Stadtteil La Boca gespielt hatte, trat er 1910 dem Orchester von Vincente Greco bei, der in seiner Nachbarschaft wohnte. Dieses Ensemble schaffte den Sprung ins Stadtzentrum. 1914 trennte er sich von Greco und bildete sein eigenes Trio. 

Gemäss anderen Berichten spielte er jedoch 1912 (gleichzeitig?) im Trio mit Augusto Berto (Bandoneon) und Domingo Salerno (Gitarre). Aus jener frühen Zeit berichtet Osvaldo Fresedo als Zeitzeuge, der damals gerade mal 15 Jahre alt war: »Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was ein Bandoneon ist; ich dachte, es sei etwas Ähnliches wie ein Cello, aber es wurde so viel über das Bandoneon geredet, und ich war so fasziniert von diesem Klang, der von den Platten kam, dass ich es sehen wollte. Eines Tages kam ein Orchester in ein kleines Café, das hatte... was? 8 mal 12 Meter oder so. Es gab viele Tische, und es war voller Leute, aber wir fanden einen kleinen Tisch. Wenn man 15 oder 20 Cent zum Preis des Essens hinzulegte, bekam man eine Nummer. Mit dieser Nummer wurde in der Mitte der Attraktion, die das Orchester darstellte, eine Flasche Anisette oder Cognac verlost. Ich erfuhr von den anderen, dass es Augusto P. Berto war, denn das Bandoneon interessierte mich. Ich wusste auch, dass die Geige von ›Pirincho‹ Canaro gespielt wurde und die Gitarre von Domingo Salerno.«  (Zusammenzug aus zwei Interviews mit O. Fresedo)

Canaros erste Kompositionen entstanden um 1915. In seinen Memoiren schreibt Canaro: »Als ich Vicente Greco verliess, bildete ich ein Trio mit José Martínez als Pianist und Pedro Polito am Bandoneon. Mit diesem brandneuen Ensemble gab ich mein Debüt im Teatro Olimpo. ... Während unseres Aufenthalts am Olimpo-Theater hatte ich bereits Charamusca komponiert, das ich mit grossem Erfolg uraufführte; und mein Freund José Martínez komponierte den Tango Canaro, den er mir als Zeugnis grosser Freundschaft widmete und der Ende 1915 sehr erfolgreich war.«

Diese ersten Kompositionen wurden 1915 bei Atlanta auf Platte veröffentlicht. Zu jener Zeit konnte man in Argentinien nur bei Odeon Schallplatten aufnehmen, jedoch war diese Möglichkeit wegen eines Exklusivvertrages von Roberto Firpo mit Odeon genommen. Francisco Canaro hatte die Wichtigkeit der Schallplatte für die Verbreitung des Tango erkannt. Deshalb nahm er die Strapaze auf sich und fuhr an Bord eines Frachtdampfers nach Porto Alegre in Brasilien, eine Schiffsreise von (ein Weg) über 1000 Kilometern! Um die Reisekosten tief zu halten, begleiteten ihn nur zwei seiner Musiker, Pedro Polito, Bandoneon, und Leopoldo Thompson, Kontrabass. Weitere Musiker wurden, wie er in seinen Memoiren schreibt, vor Ort unter Vertrag genommen. So kam es zu diesem Bild.

»Später beauftragte mich Don Alfredo Améndola, Hauptaktionär von Atlanta Records, nach Porto Alegre (Brasilien) zu reisen, um Aufnahmen für eine Plattenlieferung zu machen, da es in Buenos Aires weder Aufnahmegeräte noch eine Fabrik gab. Das einzige Haus, das zu dieser Zeit über Geräte und eine Fabrik verfügte, war das von Max Glücksmann, dem Besitzer von »Disco Nacional Odeón«; für sein Label nahm nur Roberto Firpo auf, der dieses Privileg aufgrund eines Exklusivvertrags genoss.

Aufgrund eines solchen Vertrages mit Herrn Améndola gingen wir an Bord eines kleinen Frachtdampfers nach Porto Alegre. Auf dieser Reise wurde ich von Pedro Polito, Bandoneon, und Leopoldo Thompson, Kontrabass, begleitet; um die Kosten zu begrenzen, wurden die anderen Musiker in Porto Alegre unter Vertrag genommen; zu diesem Zweck hatte das Unternehmen ein begrenztes Budget vorgesehen.

Die Fabrik in Porto Alegre gehörte einem gewissen Herrn Saverio Leonetti, und die Aufnahmen wurden mit einem mechanischen System und einigen großen und sehr unbequemen Hörnern gemacht.« (aus Canaros Memoiren Ed. Corregidor, 1999, S. 134f; Übersetzung und Zusammenfassung MKi) 

Bei Todotango und in anderen Publikationen steht, dass seine ersten Schallplattenaufnahmen 1922 gewesen sein sollen. »His first recordings were also with a trio: violin, piano and bandoneon in 1922.« Das ist nicht richtig. Die ersten Schallplatten nahm er bereits 1915 bei Atlanta Records auf. Es folgten etwa 20 Aufnahmen bei Columbia im Jahr 1920, bevor er 1922 zu Odeon wechselte. Die erste Aufnahme bei Odeon (noch mit dem akustischen Aufnahmeverfahren) war 1922 El Huerfano. Mit dem akustischen Verfahren machte er bis 1926 beachtliche 940 Aufnahmen. Die ersten Schallplattenaufnahmen bei Odeon mit dem elektrischen Verfahren entstanden im November 1926. 

Auch wenn für Canaro der Tango die bevorzugte Musikrichtung war, so finden sich in seiner langen Aufnahmeliste auch viele andere Rhythmen wie Zamba, Chacarera, Two step, Shimmy, Foxtrot, Pasodoble, Maxixe, Polca, Marcha, sowie heute kaum noch bekannte Tanzarten wie Java (ein Gesellschaftstanz im 3/4-Takt, der in den 1920er-Jahren für kurze Zeit populär war).

Neuerungen

Roberto Firpo war es, der das Klavier in den Tango einführte. Das Problem war, dass das Klavier die anderen Instrumente übertönte. Francisco Canaro löste das Problem, indem er das Trio erweiterte und zwei Bandoneons und zwei Geigen einsetzte, die jeweils unisono spielten, um die Lautstärke des Klaviers auszugleichen. Dazu engagierte er den Bassisten Leopoldo Thompson (einen der wenigen dunkelhäutigen Musiker im Tango). Im Sextett von Canaro entwickelte Thompson die Art und Weise, mit der der Kontrabass von nun an im Tango eingesetzt wurde: Thompson verdoppelte die Basslinie des Klaviers und sorgte so für eine feste rhythmische Basis des Ensembles. Von ihm stammt auch der ›golpe canyengue‹, bei dem der Bassist mit dem Bogenholz auf die Saiten schlägt. Mit zwei Bandoneons, zwei Geigen, einem Klavier und einem Kontrabass war das Sextetto típico  entstanden. Es sollte in dieser Besetzung mehr als 20 Jahre die Tangomusik prägen.

In verschiedenen Publikationen kann man lesen, dass Canaro als weitere Neuerung als Erster 1924 den Estribillista (Refrainsänger) in den Tango eingeführt haben soll. Schaut man jedoch in die unbestechliche Discographie, sieht man, dass sein Orchester 1924 die Sängerin A. Maizani und später Carlos Gardel bei ihren canciones begleitete. Die erste Schallplattenaufnahme mit dem Sänger Luis Diaz erschienen aber erst im Januar 1927. Auch wenn zuerst live vor Publikum geübt und geschaut wurde, ob etwas gut ankam, soll der geschäftstüchtige Canaro zwei Jahre lang gewartet haben bis zur ersten Schallplattenaufnahme mit einem Estribillista? Das ist schwer nachvollziehbar. Und so darf die oft genannte Jahreszahl von 1924 angezweifelt werden – 1927 erscheint weitaus glaubhafter.


Los bailes del internado

Themen des Lebens, zu denen Ärzte, Krankenhäuser, Krankheit und Medikamente gehörten, waren ebenfalls ein Themenkreis beim Tango. In den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts veranstalteten die Studenten und Assistenzärzte aller Hochschulen am ersten Frühlingstag grosse Feste. Die Bailes del Internado wurden von den Studenten der medizinischen Fakultät organisiert – die, die sich am meisten dem Tango verschrieben hatten. Sie wurden von 1914 bis 1924 abgehalten. Mit grosser Wahrscheinlichkeit hatten diese Bailes Veranstaltungen als Vorbild, die in französischen Spitälern als Bal de l‘internat bereits seit den 1890er Jahren regelmässig gefeiert wurden.

Auf dem ersten Ball, der im September 1914 im berühmten Palais de Glace stattfand, präsentierte Francisco Canaro seinen Tango El Matasano (der Gesundentöter, eine ironisch-humorvolle Bezeichnung für die Ärzte) gemäss der Erkenntnis ›Wenn jemand stirbt, ist meistens ein Arzt dabei‹. Roberto Firpo teilte sich die Bühne mit der Premiere von El apronte.

1916 zogen die Bailes del Internado zu einem grosszügigeren Veranstaltungsort um, zum  Pabellón de las Rosas. Dieses Haus spielte eine Rolle in der Geschichte des Tangos, denn es war der erste Ort, wo öffentliches Tanzen erlaubt war. Das schöne Haus wurde 1929 abgerissen.

Hier die Beschreibung, die Canaro von den Studentenbällen der medizinischen Fakultät in seinen Memoiren gibt: »Während dieser Bälle wetteiferten die Praktikanten des Krankenhauses miteinander, indem sie die groteskesten und unheimlichsten Streiche spielten, die man sich vorstellen kann. Es gab Fälle, in denen sie den Leichen aus der Leichenhalle die Hände abtrennten und mit weissen Laken zu Gespenstern verkleideten. Mit Stöcken als Arme banden sie diese steifen, kalten Hände daran und berührten damit die Gesichter der Frauen, mit dem zu erwartenden Effekt. Ein anderer schmerzlicher Fall wurde kommentiert und berühmt: auf einen Stock, mit zwei Laken als Verkleidung, steckten sie den Kopf eines italienischen Toten. Es war ein zu makabrer Scherz; die verängstigten Frauen rannten in alle Richtungen und erschraken zu Tode.«

Die makabren Streiche liefen aus dem Ruder. 1924 erschoss ein Krankenhausangestellter infolge eines Streiches, bei dem er zu Tode erschreckt worden war, einen Studenten. Daraufhin streikten die Assistenzärzte aller Krankenhäuser in Buenos Aires, und die jährlichen Bailes del Internado wurden für immer eingestellt.

Für die Bailes wurden viele Tangos komponiert. Neben dem erwähnten Matasano steuerte Canaro El Internado bei. Die bekanntesten sind El apronte (Firpo), Rawson (d‘Arienzo), El estagiario (di Sarli, Donato), und vor allem Elonce (= der Elfte), 1927 von Fresedo als Erinnerung an die ausschweifenden Bälle auf Schallplatte verewigt.


Gegen Ende des Jahres 1915 hatte Canaro sich so bekannt gemacht, dass ein Veranstalter aus Rosario, eine Stadt einige hundert Kilometer nordwestlich von Buenos Aires, Canaro als Hauptdarsteller für die Bailes de Carnaval 1916 in der zweitgrößten Stadt Argentiniens engagierte. Dort teilte er sich die Bühne mit Roberto Firpo und Eduardo Arolas und kam so gut an, dass er auch 1917 und 1918 bei den Karnevalsfeiern auftrat.


Der bereits erwähnte Francisco Garcia Jimenez lästerte über Canaros »..entbehrliche, quietschende Geige - su prescindible violin chirriador«. Ob Jimenez, der wiederholt seinen Sarkasmus über Canaro ausschüttete, einfach seiner Abneigung folgte oder ob er ihn in jener Zeit wirklich spielen gehört hat, ist mir nicht bekannt. Jedoch kann ich, auch bei Canaros frühen Aufnahmen, keine quietschende Geige hören. Und offensichtlich hatte Osvaldo Fresedo keine Bedenken, 1916 und 1917 Canaro in sein Orchester zu integrieren bzw. mit ihm zusammen zu spielen. 1917 machte Fresedo Schallplattenaufnahmen bei Victor mit einem Sextett, in dem Canaro mitspielte. (Fresedo entzweite sich mit Canaro 1917, wie Fresedo in seinen Interviews erzählt).

Auch wenn Canaro mit seiner instrumentalen Fähigkeiten im Schatten der bekannteren Kollegen stand, konnte er seine Position durch geschickte Reklame zielstrebig ausbauen. Bald kannte jeder in Buenos Aires und in der Provinz den Namen Canaro. Bereits 1918 leitete ›der Kaiser‹, wie man ihn nicht nur wegen seines cholerischen Temperaments nannte, dank seines ausgeprägten Geschäftsinns vier Tango-Orchester: Eines, in dem er selbst spielte, ein zweites, das von seinem Bruder Juan (Bandoneon) geleitet wurde, und ein drittes, das von seinem Bruder Humberto (Klavier) geführt wurde. Bald war die Zahl der Canaro-Orchester auf vier angewachsen, und ein weiterer Bruder, Rafael (Kontrabass), stand an der Spitze. In gut sitzenden Smokings spielten sie in den renommierten Lokalen von Buenos Aires.

Canaro verstand es, die volkstümliche Musik, den Tango, zu einem grossen Geschäft zu machen. Pirinchos oberstes Gebot war, hart zu arbeiten und Geld zu verdienen, egal wie viel oder wie wenig. Er wollte lieber ›der Kopf einer Maus als der Schwanz eines Löwen‹ sein. Die Erfahrung entwürdigender und erniedrigender Armut wollte er nicht mehr erleben. Mit seinen ungeschliffenen Umgangsformen in Folge begrenzter Bildung sondierte er mit einer energischen, praktischen Herangehensweise das Terrain aus, auf dem er sich bewegte. Seine Entschlossenheit, verbunden mit einer gewissen Rücksichtslosigkeit machten ihn zu einem etwas schwierigen Charakter. Musiker gaben ihm den Übernamen ›der Kaiser‹. Der ›Kaiser‹ konnte ein kleines Tango-Imperium aufbauen und ein riesiges Vermögen anhäufen. Der Volksmund prägte die Redewendung »Reicher als Canaro – tiene más plata que Canaro«.

Jedoch sollte man darüber hinaus anerkennen, dass er seinen Freunden gegenüber wiederholt sehr grosszügig war. Er sorgte sehr für seine Eltern und seine Geschwister, führte seine Brüder in das Tango-Geschäft und kaufte ihnen Instrumente. Manchem Musikerkollegen half er mit grosszügigen Beträgen durch schwierige Zeiten.

Das Pavillon de las Rosas
Die Gebrüder Canaro: Rafael, Francisco, Juan, vermutlich 20er oder 30er-Jahre

Abenteuer im Filmgeschäft

Mit den grossen Gewinnen, die er erzielte, konnte Canaro der Versuchung nicht widerstehen, und wollte den imposanten Erfolg von Carlos Gardel im Filmgeschäft wiederholen. Doch Carlos Gardel kümmerte sich wenig um die aufkommende nationale Filmindustrie. Canaro gründete 1934 die Filmgesellschaft Rio de la Plata. Sein erster Film war Idolos de la radio (Radioidole), ein künstlerischer Marathon, in dem unter anderem Ada Falcon und Ignacio Corsini zu hören waren, natürlich mit musikalischer Untermalung seines Orchesters. Zwar war der erste Versuch ein relativer Erfolg, die weiteren Filme kamen beim Publikum aber nicht richtig an, und Canaro machte riesige Verluste.

Trotz der Misserfolge versuchte er ein paar Jahre danach noch einmal sein Glück im Filmgeschäft. Bei einem Teil seiner Filme führte → Lucas Demare Regie, der Bruder von Canaros Schützling Lucio Demare.


Tourneen

Schon in frühen Jahren ging Canaro auf Tournee, wiederholt durch die argentinischen Provinz. In jenen Zeiten, als die Strassen kaum ausgebaut waren, fuhren die Musiker mit vier Autos über die holprigen Landstrassen Argentiniens, wobei unterwegs drei Bässe zu Bruch gingen.

Es folgten ausgedehnte Tourneen ins Ausland (USA, Europa, Uruguay, Chile, Brasilien).

Hier ein kurzer Überblick über seine wichtigsten Tourneen: 

• Paris 1925. New York 1926. Jahreswechsel 1927-28 in Madrid mit Gardel. 1937 Tour durch die Provinzen Argentiniens. Mit seinem Orchester spielte er dabei an 41 Tagen in 40 verschiedenen Orten konzertant vorwiegend in Theatern und Kinos.

• 1939: Nach seinen Verlusten im Filmgeschäft tourte er durch Chile und zweimal durch Brasilien.

• 1954: Reise seines Orchesters nach Japan (Oktett unter der Leitung seine Bruder Juan), 1961 reiste er selbst nach Japan.


Canaro en Paris

Von seinen Tourneen ist die von 1925 nach Paris die bekannteste. Während Canaros Abwesenheit stand sein langjähriger Pianist Luis Riccardi, der schon seit 1918 bei ihm spielte, dem Canaro-Orchester in Buenos Aires vor.

In seinen mit vielen Übertreibungen ausgeschmückten Memoiren rühmte Canaro diese Reise als einen der grössten und bedeutendsten Triumphe, bei dem nicht nur sein Orchester internationale Anerkennung erlangte, sondern auch der Tango eine weltweite Verbreitung fand. Das stimmt nur bedingt. Die Wahrheit ist, dass der Tango auch ohne ihn und lange vor seinem Besuch zu einem grossen Erfolg in Europa geworden war. Bereits 1907 war Angel Villoldo, der Schöpfer von El Choclo, begleitet vom Ehepaar Alfredo Gobbi, nach Paris gereist, um dort Schallplattenaufnahmen zu machen. Während Villoldo Frankreich kurze Zeit später verliess, blieben die Gobbis, Multitalente als Musiker und Tänzer, schlugen Wurzeln in Paris und arbeiteten in Varietés und als Tanzlehrer. Die Pariser Gesellschaft entdeckte den Tango als exotische Neuheit. Der Erfolg der Gobbis brachte weitere Tangokünstler vom Rio de la Plata nach Paris. Akademien und Tanzschulen wurden gegründet, und ab etwa 1910 erfasste die französische Metropole das Tangofieber. Manuel Pizarro und 'Tano' Genaro Esposito kamen bereits 1920 nach Paris. Manuel Pizarro war besonders geschäftstüchtig – unter der Leitung seiner Brüder Salvador, Juan, Alfredo und Domingo spielten die Pizzaro-Orchester an vier Orten in Paris. Mit der Zeit spielten neben den argentinischen Musikern immer mehr französische und ausländische Musiker in den Tango-Formationen, so dass die argentinischen Musiker oft in der Unterzahl waren. Das zum Thema 'authentischer Tango'. 

Tano Genaro  (→ Viva el principe) spielte im La Coupole. Eduardo Arolas, der grosse Bandoneonspieler, hatte Pech – er wurde 1924 in Paris (vermutlich von einem Zuhälter) erstochen. Bianco und Bachicha (Juan Deambroggio) schlossen sich zusammen und formten 1925 das Orquesta Típica Bianco-Bachicha (→ Plegaria). Sie hatten solchen Erfolg, dass sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an der Seine blieben. Canaros Brüder Rafael und Juan blieben als dauerhafte Dépendance des Canaro-Imperiums mit eigenem Orchester in Paris stationiert (→ Rien que nous deux, Melodia de nuestro adios).

Durch einen Cousin, der in einem von Canaros Orchestern Pianist war, kam → Lucio Demare in Kontakt mit dem Tango. Der Cousin und Canaros Bandoneonist Enrique ›Minotto‹ Di Cicco lehrten dem jungen Demare, der zu jener Zeit im gleichen Lokal in einem Jazz-Orchester spielte, die wichtigsten Elemente des Tangos. Als bekannt wurde, dass Canaro nach Paris reisen wollte, fragte der 19-jährige mit der Unbekümmertheit der Jugend, ob er nicht mitkommen könne. Canaro lehnte ab, da er meinte, dass Demare als Jazzpianist zu wenig vom Tango verstünde. Aber schliesslich gab er doch nach. Interessant ist, dass auch Demares Vater, ein Violinist, seine Mutter und Lucios Bruder Lucas 1926 mit nach Paris, ›der Stadt der Lichter‹, kamen, dem Sehnsuchtsort der Südamerikaner. Canaro wurde zum Wohltäter der Demare-Familie.

Aus den Memoiren von Lucio Demare: »Wir nannten Canaro bei seinem Spitznamen ›Pirincho‹, aber seine Brüder riefen ihn ›Kaiser‹, weil er ein sehr rauher Kerl war. (...) Canaro war ein ziemlicher Charakter. Ich erinnere mich, dass er eine schöne Voiturette besaß und beschlossen hatte, sich ein Paar Handschuhe zum Fahren zu kaufen. Eines Tages traf er meinen Vater und fragte ihn, mit ihm in ein Geschäft zu gehen. Die Verkäuferin war ein sehr nettes Mädchen. »Was brauchen Sie?«, fragte sie. »Ein Paar Fahrerhandschuhe«, antwortete Canaro. Die Verkäuferin fragte: »Quelle mesure?« (welches Mass?), aber Canaro verstand ›Quelle voiture (welches Auto?)‹. Stolz antwortete er: »Renault«. Die Frau schaute ihn verwirrt an. Dann fügte Canaro hinzu: »Zehn PS« und einige andere Dinge. Als das Missverständnis aufgeklärt worden war, schämte sich Canaro. Er drehte sich um und sagte zu meinem Vater mit leiser Stimme: »Ich habe die Nase voll von diesen Ausländern.« 

In Paris traten die Tango-Orchester in phantasievoller 'Gaucho'-Verkleidung auf. Alberto Paz berichtet in seiner Canaro-Biographie, dass die Musiker den Weg vom Hotel zum Aufführungsort in Gaucho-Tracht zurücklegen sollten, um entsprechende Aufmerksamkeit auf die Veranstaltungen zu ziehen. Wie ich las, war der Grund, dass die französischen Musiker-Gewerkschaften strenge Restriktionen hinsichtlich der Beschäftigung ausländischer Musiker durchgesetzt hatten. Diese Restriktionen gab es hingegen nicht bei sogenannten Folkloregruppen. E.S. Discépolo vermerkte erstaunt, dass er noch nie so viele Gauchos gesehen habe wie in Paris.

Auch Carlos Gardel weilte in jener Zeit in Paris. Canaro und Gardel feierten während ihrer französischen Gastspiele solche Triumphe, dass sie wochenlang vor ausverkauften Häusern auftreten konnten. Canaro blieb neun Monate, hatte grossen Erfolg, musste aber wegen mehrerer Verpflichtungen zurück nach Buenos Aires.

Nach seiner Rückkehr trugen die Musiker Alejandro Scarpino und Juan Caldarella eine Komposition, die sie gemeinsam geschrieben hatten, an Canaro heran. Lange hatten sie keinen Titel für ihren Tango finden können. Sie gaben ihm geschickterweise den Titel ›Canaro en Paris‹ – eine Schlagzeile, die sie in der Lokalpresse aufgeschnappt hatten. Pirincho fühlte sich natürlich geschmeichelt, nahm den Titel in sein Repertoire und zum ersten Mal im Mai → 1927 als Instrumentaltango auf. 1940 und 1956 brachte er diesen Titel erneut mit dem Quinteto Pirincho auf Platte, und nochmal 1961 in Japan mit dem Orchester. Da dies eine gelungene Komposition war, spielten auch andere Orchester wie das von Rodriguez, Pugliese und D‘Arienzo diesen Titel ein.

Weitere Tangos, die auf ihn Bezug nehmen bzw. den Namen Canaro im Titel führten, waren: Canaro (1915 (2x), 1927, 1935, 1952); Canaro en Córdoba (1928); Pirincho (1933); Canaro en Japon (1961).

Tano Genaros Orchester in Gaucho-Tracht in Paris

Präsident der SADAIC

Im Juni 1936 gelang es Canaro, nach jahrelanger Vorarbeit, zwei konkurrierende Künstlervertretungen zur SADAIC zu vereinigen, zur argentinischen Gesellschaft der Komponisten und Autoren, deren Präsident er mehrere Amtszeiten lang war. (Die Jahreszahlen der Gründung gehen in der Literatur weit auseinander. 1936 ist das am meisten genannte Datum.) Das SADAIC-Gebäude wurde auf einem Grundstück erreichtet, das Canaro erworben hatte. Seinen Freund Francisco Lomuto machte er zum ›Appointed President of the Committee of Organization‹.

Dank seiner Funktion als Präsident der SADAIC bewahrte sich Canaro bei Odeon eine gewisse ‘Narrenfreiheit‘. Er konnte weiterhin ohne Beschränkungen aufnehmen, während viele seiner Tango-Kollegen (siehe Laurenz, Tanturi, Troilo) unter der Geschäftspolitik und den Aufnahme-Restriktionen von Odeon litten.


Musikalische Komödien

Als Antwort auf die wirtschaftliche Depression nach dem Börsencrash 1929 begann Canaro 1932 in Zusammenarbeit mit dem Dichter und Theaterschriftsteller Ivo Pelay eine Reihe von Tango-Revuen und Komödien mit einfachen Handlungen zu inszenieren. Auch wenn deren künstlerische Qualität eher mittelmässig war – Reichardt benutzt das Adjektiv ‘schlecht‘ –, so traf er doch den Massengeschmack und war auch mit ihnen äusserst erfolgreich. Die erste war La Muchachada del Centro (Die Bande des Zentrums), die mehr als 900 Mal (!) aufgeführt wurde.

Das Bühnenstück La patria del Tango (1936) war eigentlich für Spanien gedacht, aber der spanische Bürgerkrieg verhinderte die Reise dorthin. Stattdessen wurde die Show mit über 600 Aufführungen zum Dauerbrenner in Buenos Aires.

Er blieb mit diesen Komödien über 20 Jahre im Geschäft, seine letzte war 1957 Tangolandia. Für diese Komödien entstanden viele seiner Kompositionen, die zusätzlich über Rundfunk und Schallplatte einer grossen Zuhörerschaft bekannt gemacht wurden.


Musik

Seine Milongas sind brillant, seine Valses sind gut. Und seine Tangos? Da fängt die grosse Debatte an. 940 seiner Aufnahmen entstanden mit dem akustischen Aufnahmeverfahren (bis November 1926) und werden heute praktisch nicht mehr aufgelegt. (Alle hier aufgeführten Musikbeispiele sind mit dem neuen Aufnahmenverfahren). Bei den frühen Aufnahmen mit dem elektrischen Aufnahmeverfahren hat es einige Perlen dabei, wie z.B. Amigazo von 1927 (eine Komposition von Juan de Dios Filiberto) oder →Adios Argentina von 1930 (eine Schallplatte, die auch in Japan bei Columbia erschien). Ab den späten 30er Jahren werden seine Aufnahmen in meinen Ohren musikalisch immer weniger interessant. Oder wie es im englischen Sprachraum zusammengefasst wird: ›a long slow decline‹. Dieter Reichardt schreibt: »Obwohl in seinen Orchestern eine grosse Zahl ausgezeichneter Solisten mitwirkte, blieb ihr auf einfache Harmonien und mechanisch exaktes Tempo verpflichteter Vortragsstil immer konventionell. .. Aus zeitlichem Abstand jedoch erscheint seine Musik im Vergleich mit anderen Orchestern, selbst solchen, die nicht an Innovationen interessiert waren, reiz- und spannungslos ...«


Seine Milongas müssen besonders erwähnt werden. Die erste Milonga, die ein grosser Erfolg wurde und ein neues Genre begründete, war Milonga sentimental, die 1932 von Mercedes Simone, Ada Falcon und anderen aufgenommen wurde. Im Februar 1933 folgte die geniale Version von Francisco Canaros Orchester (mit Ernesto Famá), die auch heute noch oft zu hören ist. Es folgten →Milonga del 900 (novecientos), die ich fast noch besser finde, und Negrito (1934). Auf jeden Fall hörenswert ist →Tangón von 1935 mit einem milonga-ähnlichen Rhythmus. Silueta porteña (Juli 1936) und Milonga criolla (Oktober 1936) sind ebenso brillant und wurden zum Verkaufserfolg. Andere Orchester erkannten das Potential dieser neuen Musikrichtung. So nahm Juan d‘Arienzo, der beim Konkurrenten RCA Victor unter Vertrag stand, Silueta porteña noch vor Canaro im gleichen Jahr auf. →Milonga de mis amores ist eine weitere brillante Milonga, die von Canaro im Mai 1937 aufgenommen wurde, zwei Monate später folgte die ebenso hervorragende Version von → Pedro Laurenz.

Der Schöpfer einiger dieser Milongas war der klavierspielende Komponist Sebastián Piana, der zum ›Señor Milonga‹ wurde. Er war mit Homero Manzi und Cátulo Castillo eng befreundet, aus deren Feder die meisten Texte seiner Kompositionen stammen. Von Piana stammen auch die Milongas Papa Baltasar und Pena mulata sowie der Tango Tinta roja, der in der Interpretation von Troilo bekannt wurde.


Canaro als Komponist

Ihm wird nachgesagt, dass er wiederholt Kompositionen als die seinen ausgab, auch wenn sie von anderen stammten. Er soll sie unter anderem bedürftigen Musikern abgekauft haben oder von seinen Brüdern übernommen und als die seinen ausgegeben haben, wie z.B. den Titel Sentimiento gaucho. Insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Canaro jahrelang Präsident der SADAIC war, das die Rechte der Autoren schützen sollte.

Jedoch merkt ein Rezensent zu Recht an, dass Canaro, auch wenn er manchen Tango “übernommen“ hat, er trotzdem als produktiver Komponist anerkannt werden muss. Zu den bekanntesten Kompositionen aus seiner Feder gehören →El chamuyo (1927, 1933, 1950), La Tablada (1927, 1929, 1946), Charamusca (1934, 1950), ElTigre millan (1934, Autorenschaft von Reichardt angezweifelt); La ultima copa (1927, 1931, 1948, 1956, 1957); Nobleza de Arrabal (1927, 1930, 1940, 1946, 1947); Nueve puntos (von anderen Orchestern aufgenommen, z.B. di Sarli 1943); El Pollito (1927, 1931, 1947, 1959); der Vals Soñar y nada mas (1943) und andere. Es fällt auf, dass die guten Kompositionen vorwiegend aus den frühen Jahren stammen.

Ungewöhnliche Instrumente

Vielen seiner Tangos mangelt es an musikalischem Esprit. Stattdessen baute er immer wieder mal für den Tango ungewöhnliche Instrumente in das Klangbild ein. Nach einem Abstecher in den zwanziger Jahren in die USA, wo er unter dem Namen ›Canaro Jazzband‹ Aufnahmen machte, führte er Trompete (oft gedämpft) und Klarinette ein. Diese Instrumente sind bei ihm bis in die 50er Jahre recht oft zu hören. Die Trompete ist eines der Klangmerkmale des Orchesters von Canaro, womit man es von anderen Orchestern unterscheiden kann.

Hawaii-Gitarre: Canaro setzte die Hawaii-Gitarre zwischen 1928 - 30 in mehreren Kompositionen ein. Z.B. hier → Mimosas 1929, oder → Malvaloca 1930. Sehr ähnlich zur Hawaii-Gitarre ist der Klang einer Slidegitarre, zu hören in Sin rumbo von 1931.

Akkordeon: Canaro setzte das Akkordeon z.B. im Vals → No nos veremos mas (1935, mit Roberto Maida) ein (zu hören ab 0.24), und zwar im französischen Stil, in Kombination mit gedämpfter Trompete. 

David Thomas vermerkt, dass in →Invierno von 1937 ab 0.24 ein elektrisch betriebenes grosses Bandoneon zu hören ist, das vielleicht laut war, aber für mich recht ausdrucklos tönt. In dem Stück hören wir auch gedämpfte Trompeten.

Orgel: In → Cristal von 1944 (mit Carlos Roldan) hören wir  bei 1.02 (nochmal bei 2.33) eine Orgel, kurz danach die Klänge eines Glockenspiels oder eines Xylophons. Trotz all dieser Klangspielereien finde ich das Stück langweilig. Ähnliches empfinde ich bei → Gricel von 1942 (mit Eduardo Adrian). Neben den üblichen Instrumenten hören wir diesmal Orgel und Klarinette. Bei →Corazón encadenado von 1942 ist die Kombination Orgel und gedämpfte Trompete.

In den 50er Jahren setzte Canaro beim Quinteto Pirincho bei manchen Milongas und Tangos ein Schlagzeug ein, z.B. in Se dice de mi von 1954.


Die Musiker

Durch seine Orchester gingen vor allem in der Frühzeit Musiker, die später berühmt werden sollten. In seiner über 400-seitigen Biographie werden seine Musiker jedoch kaum erwähnt – wegen, wie er es ausdrückt: ›der Tyrannei mangelnden Platzes‹ trotz mehr als 400 Seiten. Jedoch können wir rückblickend sagen, dass es bei ihm keine Musikeraufstände gegeben hat wie bei Juan d‘Arienzo und bei Angel d‘Agostino. Einige seiner Musiker blieben lange bei ihm. Ein Name, der wiederholt auftaucht, ist der seines ersten Bandoneonisten Minotto di Cicco. Er und Canaros talentierteste Musiker wurden Teil des Quinteto Pirincho. Ein weiterer ‘Altgedienter‘ ist der Violinist Octavio Scaglione, der mehr als 30 Jahre bei ihm blieb.


Quinteto Don Pancho - Quinteto Pirincho

1937 stellte Canaro als weiteres musikalisches Standbein ein Quintett zusammen, das zunächst Don Pancho hiess, kurze Zeit später den Namen Quinteto Pirincho bekam. Das Quintett trat nicht öffentlich auf, sondern kam nur für instrumentale Schallplattenaufnahmen zusammen, spielte jedoch am Radio. Als in den 50er-Jahren die Tangobegeisterung mehr und mehr abnahm, blieb Canaro mit seinem Quinteto Pirincho weiter im Geschäft.


Die Vokalisten

Bekannte Sänger und Sängerinnen wie Carlos Gardel, Azucena Maizani, und seine geliebte Ada Falcon wurden von Canaros Orchester begleitet. Der erste in das Orchester integrierte Estribillista war 1927 Luis Diaz, der bereits im März 1927 von Agustin Irusta abgelöst wurde, und nur kurz 1930 wieder bei Canaro auftauchte. Es folgten unzählige andere Sänger in Canaros langer Aufnahmezeit, auf die ich hier nicht eingehen will, darunter (mir) so unbekannte Namen wie Luis Scalon und Julio Silva Salinas. Einer seiner besten Sänger (1928-1937) war (in meinen Ohren) Charlo, der seinen Künstlernamen nach seinem Idol Charlie Chaplin wählte, und den wir oft auch auf den Aufnahmen von Canaros Freund → Francisco Lomuto hören können. Es folgten Ernesto Fama und Roberto Maida. Auch Francisco Fiorentino sang (um 1928) kurze Zeit bei ihm – zu jener Zeit hatte er aber noch nicht die Meisterschaft, die er erst in der Zusammenarbeit mit Troilo erlangte.

Laut der Lanner-Discographie können wir auf einigen Aufnahmen Canaro selbst im Wechselgesang (Contracanto) kurz hören, so z.B. in →No hay que hacerse mala sangre von 1935, zu finden z.B. auf der CD Poema 1935.


Der Versuch einer Zusammenfassung

Vorab: Canaros mächtigem Lebenswerk kann man in einer so kurzen Biographie (auch wenn diese jetzt doch recht lang geraten ist) nicht wirklich gerecht werden…

Die Geschichte von seinem Aufstieg zum Millionär - ‘from rags to riches‘ - hätte sich auch in Nordamerika abspielen können. Er war ein Mann, der sich mit grosser Entschlossenheit aus einem Leben in Elend und erniedrigender Armut nach oben gekämpft hat. Den eingangs erwähnten abfälligen Urteilen von Francisco Garcia Jimenez zuzustimmen, hiesse ihm Unrecht anzutun. Canaro, der früh auf die am Rio de la Plata entstehende Musikgattung setzte, gehört zweifellos zu den Tango-Pionieren. Er und seine damaligen Musikerkollegen schafften es, den lange Zeit gering geachteten Tango aus den Arrabales ins Stadtzentrum zu bringen und den Tango einer grossen Zahl von Menschen bekannt zu machen und sie dafür zu gewinnen.

Von Troilo gibt es die Anekdote, dass er seine über Juan d‘Arienzo spöttelnden Musiker zurecht wies: »Wenn ihr wollt, lacht über ihn, aber ohne ihn wären wir alle ohne Arbeit.« Er hätte dies auch über Canaro sagen können.


Francisco Canaros Musik kommt in der Bewertung der Tango-Kenner, wie wir eingangs gelesen haben, nicht allzu gut weg. Und die persönliche Einschätzung?

Eine Möglichkeit, etwas über den musikalischen Charakter eines Orchesters zu erfahren, ist folgendes Vorgehen: Stell Dir die besten Stücke eines Orchesters zusammen, z. B. von di Sarli oder Fresedo. Di Sarli kann ich stundenlang hören, seine Musik hat etwas positiv-fröhliches. Das gilt für seine gesamte Periode – auch die frühen Aufnahmen seines Sextetts sind für mich ein Genuss. Ähnliches bei Fresedo: eine leichte, positiv-fröhliche Grundstimmung bei seinen Tangos ab 1933, die wenig bekannten Tangos davor kommen kraftvoll daher. Auch ihn kann ich lange hören. Dann mach das Gleiche mit Canaros Musik. Ihn kann ich nicht lange ertragen, selbst bei seiner besseren Periode vor 1933. Seine Musik hat ab den späten 30er Jahren (für mich) etwas Niederziehendes und Ermüdendes (ich kann es nicht anders beschreiben). Noch schlimmer ist der Kontrast, wenn man nicht die besten Stücke nimmt, sondern im Zufallmodus seine Musik spielen lässt. Dieses Experiment kann von jedem einfach durchgeführt werden.

Wer selbst die Musik von Canaro mit den Interpretationen anderer Orchestern der Epoca de Oro vergleichen möchte, kann dies bei einer Vielzahl von Canaro-Titeln tun. Troilo nahm →En esta tarde gris mit Fiorentino im Juli 1941 auf, Canaro war → mit Francisco Amor bereits zwei Monate vorher im Odeon-Aufnahmestudio. Die Unterschiede sind deutlich zu hören – ich möchte nicht näher darauf eingehen. Es würde mich wundern, wenn jemand die Canaro-Version gleich gut oder besser finden würde.

Ihm und seinem Orchester mangelte es an spielerischer Kreativität, und im Vergleich mit anderen Tango-Orchestern der Epoca de Oro hat seine Musik etwas Schematisches. Meine subjektive musikalische Einschätzung: Wie ich bereits schrieb, finde ich seine Milonga-Interpretationen aus den 30er Jahren brillant, viele seiner Valses sind gut, und vor allem in den frühen Jahren lässt sich manche Tango-Perle entdecken. Das Problem: CDs mit seinen frühen Aufnahmen sind relativ selten und schwer zu finden, wenn man nicht weiss, wonach man genau suchen muss (z.B. die CTA-Zusammenstellungen). Ab den späten 30er Jahren haben seine Tangos, im Vergleich zum grossen musikalischen Einfallsreichtum der anderen Orchester, einen schwerfälligen Charakter. Aber gerade diese CDs aus den späteren Jahren sind (mit vielen Überschneidungen) massenweise im Umlauf.


Seine letzte Schallplattenaufnahme war anfangs November 1964, sein letzter Auftritt war am 30. November 1964 in Montevideo, weniger als drei Wochen vor dem Ende seines arbeitsreichen Lebens.

Charlo mit Canaro im Aufnahmestudio mit einem Neumann-Telefunken-Mikrophon
Orquesta Francisco Canaro, 10 Musiker und Charlo, vermutlich im Aufnahmestudio bei einer Probe. Jedoch ist kein Mikrofon zu sehen. Vermutlich 1928 oder später.

    Bailemos Tango ! 


          Tango-DJ Michael KI                                      © 06/2022



Quellen (Auswahl): siehe Einführung zu den Beiträgen

zusätzlich: – www.todotango.com/english/artists/biography/28/Francisco-Canaro/ (Nestor Pinson & Julio Nudler)

           – www.todotango.com/english/history/chronicle/390/The-Canaro-Quintets:-Don-Pancho-and-Pirincho/

           – https://www.todotango.com/english/history/chronicle/541/Orquesta-Tipica-Francisco-Canaro/

           – https://elfirulete.wordpress.com/2009/01/14/captain-of-the-tango-industry/ (Alberto Paz)

           – www.tango-dj.eu/Tango_Orchester.html#Francisco_Canaro  (Olli Eyding)

           – Canaro-Biographie von Jürgen Bieler in der Zeitschrift Tangodanza

Discographie Chr. Lanner 2010: https://sites.google.com/site/franciscocanarodiscography/recordings-in-chronological-order