Worüber singen sie überhaupt?
– die Themenkreise im Tango

Am Rio de la Plata entwickelte sich eine eigenständige, wunderbare Musikgattung, die ihresgleichen sucht. Kleine Kunstwerke, grossartige Musik, bezaubernde Melodien – in drei Minuten gepackt und in dieser kurzen Zeit äusserst ideenreich entwickelt. Allein diese Musikalität und dieser Ideenreichtum würden den Tango rioplatense zu etwas Besonderem machen. 

Aber es kommt noch etwas dazu: die Dichtung – und vortreffliche Sänger, für die diese lyrischen Kunstwerke geschrieben wurden.

Eine kurze Anmerkung zum Gesang im Tango argentino: In den meisten Musikkulturen wird die tragende Rolle der weiblichen Stimme zugestanden. Hier sind es die Männer, die sich durchgesetzt haben, und zwar mit einer grossen stimmlichen Vielfalt auf höchstem gesanglichen Niveau. **)

Ich bin über das Tanzen zum Musik-Auflegen gekommen. Und es ist gut, dass ich nur wenig Spanisch verstehe, denn dadurch war mir die Wohltat vergönnt weghören zu können (was bei den deutschen Schlagern leider nicht möglich ist). Dadurch rückten unwillkürlich die musikalischen Qualitäten wie Melodie, Klang, Rhythmus und Variationen ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit. Mit der Zeit bin ich natürlich immer neugieriger geworden, worüber sie singen.


Es war für mich interessant zu erfahren, dass auch spanischsprechende Tangueras und Tangueros oft nicht wissen, worum es geht… Die meisten von euch kennen diesen wunderschönen Tango von Miguel Calo (Alberto Podestá ab 1.10)  Was ist Percal? Ich habe einige Tänzerinnen spanischer Muttersprache gefragt, worüber denn da gesungen wird. Niemand wusste es. Eine Chilenin hatte eine Ahnung und konnte ihren Vater fragen, der den Hintergrund kannte: Percal ist ein einfacher Baumwollstoff. Percal steht in den Tangotexten als Symbol für Armut, Bescheidenheit und Unschuld.


Die wichtigsten Themenkreise – die enttäuschte Liebe; soziale Gegensätze; das Scheitern; Alkohol und Drogen

Das Spektrum der Tango-Lyrik ist weit gespannt. Themen sind gescheiterte Liebesbeziehungen, der Verlust der Jugend, des heimischen Stadtviertels, der moralischen Integrität, und andere Themen. 

Marta Rubinstein benennt in ihrem Buch Tango Macho folgende Themenkreise: **)

– der Tod, der jeden treffen konnte in einer Zeit, als schlechte hygienische Verhältnisse, ein marodes Abwassersystem und Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera, Pocken den Tod zu etwas Alltäglichem machten.

–  die Sehnsucht nach dem Barrio. In der Rückschau bekommt sogar die Vorstadtarmut  eine Aura von Geborgenheit und mitmenschlicher Wärme, und das selbst noch in Müllhaldennähe wie im Tango El ciruja – der Knochensammler

– das Bandoneon, das klangprägende Instrument des Tangos, auch Fueye (Blasebalg) genannt (›Alma de Bandoneon, Che bandoneon, Bandoneon arrabalero‹ und andere **) 

– die Francesitas und Milonguitas – Frauen auf dem ‘schlechten‘ Weg, oder, wie Reichardt es umschreibt: ›die von Alkohol, Drogen und ‘Cabaretdienst‘ gezeichnete Frau‹ – wobei die Hintergründe der Prostitution und der gesellschaftlich-männlichen Doppelmoral kaum hinterfragt wurden. (›Esclavas blancas, Margot, Milonguita, Madame Ivonne, Muñeca brava‹ und einige andere)

– die Freundschaft, die Muchachos

Übersicht
Tango-Beiträge

Enttäuschte Liebe

Der zweifellos grösste Teil der Tangodichtung hat die Liebe zum Thema, vor allem das Scheitern, die enttäuschte Liebe, oder wie die Brasilianer es etwas spöttisch benennen, das ›Lamento cornudo‹. 

›Mi noche triste‹ von Carlos Gardel war so etwas wie der Prototyp dieses Themas, das in anderen Tangos wiederholte wurde. (›Amurado, No me escribas‹ und viele andere) 

In dem vielleicht am meisten gespielten Tango ›La Cumparsita‹ klagt der Sänger: »Wenn du wüsstest, dass tief in meiner Seele noch jene Liebe schlummert, die ich für dich empfand …   
Seit dem Tag, an dem du fortgingst, habe ich Schmerzen in der Brust …«
**)

Ein weiterer von vielen ist der Tango No te engañes corazón mit der pauschalen Anklage, dass Frauen lügen und betrügen, wobei der Mann sich nicht im Mindesten hinterfragt. 

Dieser grosse Themenkreis ist auch deshalb von Interesse, weil man darin das sich über die Jahrzehnte verändernde Frauenbild ablesen kann – mit all seinen Variationen der schmerzlichen Liebe zwischen Mann und Frau. Über diesen Themenkreis des sich verändernden Frauenbildes wurden einige Bücher geschrieben.

Und so taucht mit der Zeit in den Tangotexten auch der bedauernde oder bereuende Mann auf, der das Scheitern nicht allein der Frau anlastet, sondern die eigene (Mit-)Schuld eingesteht (z.B. in Volver und Esta tarde gris).

Das Bild des an- und wehklagenden Mannes ist anscheinend ziemlich verfestigt. Ich sprach mit einer spanischsprachigen Tanguera, und sie war verwundert, dass es auch die Rolle des bereuenden Mannes im argentinischen Tango geben soll.
    Im Tango A las 7 en el café von Miguel Caló treffen sich die Freunde. »Bruder, mein wahrer Freund, der alles von mir weiss, ich erzähle dir von einer Begegnung, die mich wieder glücklich macht.« Er erzählt, wie er am Tag davor Margarita, seine erste Liebe traf, und die er wegen seinem Milonguero-Leben verlor (y que yo por milonguero un mal día la perdi). In der nächsten Strophe singt Jorge Ortiz (seine Stimme wird dabei weich und scheu und setzt eindrücklich das Gesungene in Gefühle um):

Te juro que nunca

me sentí tan apocado,

estaba atontado

sin saber lo que decir.
    Pero pronto comprendiendo
    que vivía equivocado
    prometí volver al lado,
    de su amor hasta morir.



Der Schmerz des Verlustes

Im Vals mit dem kurzen Titel → Paisaje - Landschaft (Pedro Laurenz mit A. Podesta 1943) wird der Verlust und der damit einhergehende Schmerz nicht direkt, sondern hintergründig und subtil angesprochen. Vordergründig geht es um eine Herbstmalerei, aber nach ein paar Zeilen merken wir, dass es um Herzschmerz geht. Der Mann erzählt, dass ein Porträt seiner Geliebten an der Wand hing. Als sie sich trennten, hat er es runter genommen. Irgendwann später kaufte er sich ein Landschaftsbild (Paisaje) und hängt es an die gegenüberliegende Wand. Die Perspektive wechselt, auf einmal merkt man, dass er zu diesem Bild spricht, und man spürt, dass das Gefühl des Herbstes im Bild etwas mit seiner Verflossenen zu tun hat. 

Ausschnitte aus dem Text, als er zum Bild spricht: 

»Beklemmung spürte ich
bei deinem verschleierten Ton,
deinem Dunkel und Grau
Dein Himmel, verhüllt von Wolken und Dunst
Wer mag es gewesen sein, der
des Kiefernwaldes Herbstruhe auf die Leinwand malte?
Dies dunkle Licht des Vergessens, das verlorene Ende 
und der Weg, verwundet von Blau und Einsamkeit...«  **)

Selbst in der deutschen Übersetzung spürt man noch die Kraft von Homero Manzis poetischen Bildern, die in jeder Übersetzung etwas verloren gehen.

Zurückkehren, mit welker Stirn, der Schnee der Zeit hat meine Schläfen versilbert. Fühlen, dass das Leben ein Hauch ist, dass zwanzig Jahre nichts sind, dass der fiebrige Blick, der im Dunkel umherirrt, dich sucht und dich ruft. –
Volver (T: A. Le Pera)


Remordimiento de saber que, por mi culpa, nunca, vida, nunca te veré.

–Die Qual zu wissen, dass es meine eigene Schuld ist, wenn ich Dich, mein Leben, nie mehr sehen werde.

En esta tarde gris - An diesem grauen Abend

Ich schwöre

ich fühlte mich nie so scheu.

Ich war verwirrt

und wusste nicht was sagen.

Aber ich verstand mit einem Mal

Mein Leben war ein grosser Fehler

und ich versprach

sie zu lieben bis zu meinem Tod.

Es wäre jedoch eine grobe Verallgemeinerung, den Tango auf weinende Männeraugen zu reduzieren.

In den Tangotexten ist nicht ›die Traurigkeit an sich‹ das Thema, sondern es geht um konkrete Verluste – damit wird auch die Vergeblichkeit der Tröstung aufgezeigt. Man trauert um etwas – um die vergangene Idylle des Stadtviertels, um die durchgebrannte Geliebte, um...  Es sind die Trauernden, mit denen die Hörer sich gefühlsmässig solidarisieren können.

Einen Themenkreis, den Marta Rubinstein nicht erwähnt, ist der Tango selbst. Dieser ist oft in den Tangos von Ricardo Tanturi das besungene Thema. Mit seiner Titeln, in denen er den Tango selbst zum Thema machte, sprach Tanturi die Milongueros direkt an. Dazu gehören Al compás de un tango; El tango es el tango; Tango (Voz de Tango); Cuatro compases; Canción de rango; Bailongo de los Domingos; Muchachos comienza la ronda, En el salon.

Schauen wir uns den bekannten Tango Una emoción (1943, mit Enrique Campos) näher an. Die Lyrik hat auch hier den Tango selbst zum Thema. 


Vengan a ver que traigo yo  

en esta unión de notas y palabras. 

Es la canción que me inspiró  

la evocación que anoche me acunaba. 

Es voz de tango  

modulado en cada esquina

Quiero cantar por este son   

que es cada vez más dulce y seductor. 

Su acento es la canción de voz sentimental...

su ritmo es el compás que vive en mi ciudad.

No tiene pretensión, 

no quiere ser procaz.

se llama tango... y nada más.

Komm und schau, was ich bringe
in dieser Verbindung von Melodie und Wort.
Es ist der Gesang, der in mir die Erinnerung hervorruft,
die mich letzte Nacht in den Schlaf wiegte.


Es ist die Stimme des Tangos,
der an jeder Strassenecke zu hören ist
von dem, der ein Gefühl lebt, das ihn beherscht.

Ich möchte singen von diesem Klang,
der mit jedem Mal süsser und verführerischer wird.


Es ist ein Gesang mit sentimentaler Stimme,
sein Rhythmus ist der compás (Takt) meiner Stadt.
Er hat keinen Anspruch,
noch will er frech sein.
Er nennt sich Tango … und nicht mehr.

Die Armut des Stadtviertels, des Arrabal, war oft der Ausgangspunkt einer Erzählung. Im Tango Sentencia (Urteil, Urteilsspruch) heisst es:

Ich wurde in der Vorstadt geboren, Herr Richter,
in der Vorstadt, wo einen das Elend verzweifeln lässt,
im sozialen Morast, wo eines Nachts
die Armut eine Bleibe gefunden hatte…
 

Wenn jemand in den Tangotexten weint, sei es aufgrund von Liebeskummer, Heimweh, Scheitern oder ähnlichem, ist es fast immer ein Mann, selten eine Frau. Jedoch wird auch in Argentinien wie in ganz Südamerika das bekannte Männlichkeitsbild hochgehalten: ein Mann weint nicht! **) Warum also gerade im Tango diese Auflehnung gegen das Männlichkeitsklischee?

Direkte politische Kritik an der Obrigkeit (bis auf ganz seltene Ausnahmen) hatten sich die Texteschreiber selbst verboten, denn sonst wäre es ihnen beim allzeit herrschenden Repressionsapparat schlecht ergangen. Die frühe Festlegung auf die Trauer um Verlorenes kann man verstehen als ein indirektes Aufbegehren gegen obrigkeitsverordnete Wertevorstellungen. Und so gab es eine frühe Festlegung auf die Erfahrungen von Trauer um Verlorenes. Auch wenn im Tango selten direkter Protest zu hören ist, so ist in ihm, wie Reichardt es formuliert, »das Zähneknirschen des Erniedrigten und Ausgebeuteten unüberhörbar.« An anderer Stelle schreibt er: »Negiert wird all das, was eine mängelbehaftete Gesellschaftsordnung an Tröstlichkeiten vorgaukeln muss, um die Schlechtweggekommenen bei staatsfrommer Laune zu halten.« 

Der Tango ist (bis auf wenige Ausnahmen) nicht fröhlich, er gaukelt kein Weltbild vor, in dem alles ein gutes Ende findet. Und so bleiben uns systemstabilisierende Verblödungstexte deutscher Schlager, jenseits jeglicher Erschütterung, erspart. (»Wir wollen ganz zufrieden sein / und trinken Bier, Schnaps und Wein« (Tony Marschall), um nur ein Beispiel einer Flut dümmlicher Schlagetexte zu nennen. **)

Die Erzählungen des Tango sind keine Aschenputtel- oder Tellerwäscher-Aufstiegsmärchen.  Fracaso – Scheitern ist ein häufiges Wort in den Tangogedichten. Das Scheitern, das in allen Bereichen des Lebens vorkommt, und das uns daran erinnert, dass wir nicht immer bekommen, was wir wollen. Aufstiegsmärchen gibt es im Tango nicht, sie zeigen meistens den entgegengesetzten Verlauf, nämlich abwärts – abajo. José Gobello bemerkt: »Der Tango singt nicht darüber, was man hat, sondern was man verloren hat.« **) Selbst die Vorstadtarmut gewinnt – im Kontrast zu den Tiefpunkten menschlicher Existenz – im Nachhinein eine Aura von Geborgenheit und menschlicher Wärme. Eines der bekanntesten Tangos mit diesem Thema im Titel ist → Dos fracasos – Zweimal Scheitern; aber das Scheitern findet in vielen Tangotexten ihren Ausdruck.

Mir gefällt besonders die Lyrik, wo mit wenigen Strichen eine Stimmung hingezaubert wird, z.B. in → Niebla del Riachuelo – Nebel auf dem Riachuelo. Der Riachuelo ist der Fluss, der beim Stadtteil Boca (Boca: Mund, hier im Sinn von Mündung) in den Plata mündet und wo früher der alte Hafen von Buenos Aires lag. Die poetische Qualität bleibt m.M. auch in der Übersetzung erhalten. Ein kleines Kunstwerk. 

Weil der Text auch in der Übersetzung so düster-schön ist, gebe ich ihn in der ganzen Länge wieder. In der letzten Strophe schaffen die Worte schwermütige Hoffnungslosigkeit.

»... schluck deine Sehnsucht runter in einem stillen Café... es regnet langsam auf deine Verzweiflung... 
Anker, die nie mehr, nie mehr gelichtet werden... gefangen wie ein Buddelschiff in einer Spelunke.« 

Turbio fondeadero donde van a recalar, 

barcos que en el muelle para siempre han de quedar...

Sombras que se alargan en la noche del dolor; 

náufragos del mundo que han perdido el corazón... 

Puentes y cordajes donde el viento viene a aullar, 

barcos carboneros que jamás han de zarpar... 

Torvo cementerio de las naves que al morir, 

sueñan sin embargo que hacia 

el mar han de partir...

Niebla del Riachuelo!.. 

Amarrado al recuerdo yo sigo esperando... 

¡Niebla del Riachuelo! 

De ese amor, para siempre, me vas alejando...

Nunca más volvió, nunca más la vi, 

nunca más su voz nombró mi nombre junto a mi...

esa misma voz que dijo: »¡Adiós!«

Sueña, marinero, con tu viejo bergantín, 

bebe tus nostalgias en el sordo cafetín... 

Llueve sobre el puerto, mientras tanto mi cancion;

llueve lentamente sobre tu desolación... 

Anclas que ya nunca, nunca más, han de levar, 

bordas de lanchones sin amarras que soltar... 

Triste caravana sin destino ni ilusión,

como un barco preso en la »botella del figón.


Niebla del Riachuelo, 1937 Musik von J. C. Cobían, Lyrik von Enrique Cadícamo


Aufgrund der begrenzten Zeit einer Plattenaufnahme wird im Tango nur ein Teil der Dichtung gesungen – hier die zweite, nicht kursiv gedruckte Strophe. Ich würde gerne wissen, ob bei Live-Auftritten, von denen es in der Epoca de Oro viele gab und wo die Zeitbeschränkung einer Plattenaufnahme nicht galt, der Gesangspart auf weitere Strophen ausgedehnt wurde – was vonseiten von Orchester und Sänger kein Problem gewesen wäre. Diese Frage wurde noch nicht aufgeworfen und auch nie beantwortet.

Yo nací, señor juez, en el suburbio,

suburbio triste de la enorme pena,

en el fango social donde una noche

asentara su rancho la miseria.

La-Boca-Hafen mit Schwebefährenbrücke im Hintergrund, vermutlich 1920er Jahre

Trüber Ankerplatz, wo die Schiffe hingeraten,

die für immer an der Mole bleiben müssen...

Schatten, die in der Nacht des Schmerzes grösser werden;

Wracks der Welt, die ihr Herz verloren haben....

Brücken und Takelagen, in denen der Wind heult,

Kohledampfer, die niemals mehr auslaufen...

Finsterer Friedhof der Schiffe, die sterbend
immer noch davon träumen,

dass sie auslaufen werden...

Nebel auf dem Riachuelo!...

Vertäut an der Erinnerung hoffe ich weiter...

Nebel des Riachuelo!

von dieser Liebe hast du mich für immer getrennt...

Sie kam nie mehr zurück, hab sie nie mehr gesehen,
nie mehr sprach ihre Stimme meinen Namen neben mir...

dieselbe Stimme, die sagte: „Adios!“

Träume, Seemann, von deiner alten Brigg,

schluck deine Sehnsucht runter in einem stillen Café...

Regen über dem Hafen während meines ganzen Liedes;

es regnet langsam auf deine Verzweiflung...

Anker, die nie mehr, nie mehr gelichtet werden,

Bordwände an Steinquadern, unlösbare Taue...

Trauriger Geleitzug, ohne Ziel, ohne Erwartung,

gefangen wie ein Buddelschiff in einer Spelunke.