Orlando Goñi (eigentlich Orlando Cayetano Gogni) 1914 - 1945
Man darf annehmen, dass es nach dem Rausschmiss für Goñi möglich gewesen wäre, dass sein langjähriger Freund Troilo die Kündigung zurückgenommen hätte. Was bewog Goñi also, das Orchester von Troilo endgültig zu verlassen und den Alleingang zu wagen? War es Stolz, wollte er vielleicht eigenständig Erfolg haben? Alberto Castillo hatte es geschafft und hatte nach dem Weggang von Ricardo Tanturi Erfolg mit seinem eigenen Orchester, und auch Rodolfo Biagi war mit eigenem Orchester erfolgreich. Aber Goñi hatte nicht die Durchsetzungsfähigkeit und vor allem nicht die Disziplin, um im Musikgeschäft zu bestehen. Trotz der Bekanntheit Goñis und seinen anfänglichen Erfolgen gibt es leider keine Schallplattenaufnahmen von seinem Orchester.
Bei den Tango-Aficiniados war Troilos Pianist Orlando Goñi bekannt und beliebt, aber als Pianist war er noch nie in Zeitungsanzeigen erwähnt worden. Nach seinem Weggang von Troilo im September 1943 stellte Orlando Goñi ein eigenes Orchester zusammen und wurde daraufhin Hauptfigur einer eindrucksvollen Werbekampagne, die nur von den Anpreisungen für die grossen Stars Alberto Castillo und Roberto Rufino übertroffen wurde. Die Anzeigen in der Zeitung von El Mundo dokumentieren den steilen Aufstieg Goñis, aber auch seinen bedauernswerten Niedergang. (Diese Zusammenfassung beruht hauptsächlich auf den Recherchen von Michael Krugman.)
Orlando Goñi hatte unmittelbar grossen Erfolg in Form von ausgedehnten Engagements in der Bar El Nacional. Am 1. Dezember 1943 hatte er sein erstes Konzert im El Nacional mit seinem neuen Orchester und dem bekannten Sänger Rodríguez Lesende, der schon bei Fresedo, de Caro und Lomuto gesungen hatte. In der Zeitung von El Mundo erschien für den 18. Dezember ein Inserat, in dem Goñi zum 'Marschall des Tango' ernannt wurde und in dem geschrieben stand, dass im El Nacional 25‘000 Leute ihm applaudiert hätten.... Ob die Zahl korrekt oder werbewirksame Übertreibung ist, wissen wir nicht, aber sicher ist, dass er offensichtlich Erfolg hatte.
Der Vertrag im El Nacional, der ursprünglich nur für den Dezember galt, wurde auf insgesamt 10 Wochen verlängert. Nach Goñi spielte im El Nacional eine andere Tangogrösse, das Orchester von Edgardo Donato.
Der erste Auftritt zusammen mit Francisco Fiorentino, der ebenfalls Troilos Orchester verlassen hatte, war am 4. Juni ‘44 in der Príncipe Jorge - Prince George Hall.
Es folgten weitere Auftritte in anderen Lokalitäten wie im Palermo Palace – insgesamt neunzehn aufeinanderfolgende, ausverkaufte Wochen. Ein riesengrosses Zeitungsinserat, das fast einen Drittel der Seite einnahm, verkündete, dass 'El pulpo del Tango' (der Octopus des Tango) zusammen mit Fiorentino im Palermo Palace auftreten würde. Alberto Castillo und Roberto Rufino wurden ebenfalls angekündigt. Der Eintritt für die 'Caballeros' war 1 Peso, die Damen hatten es gut, für sie gab es freien Eintritt.
Dazu kamen Auftritte bei LR3 Radio Belgrano. Goñi war ein ausserordentlich guter Start gelungen. Dennoch gibt es keine Schallplattenaufnahmen aus jener Zeit – ein Kommentator schrieb von ‘der Hirntaubheit der Direktoren der Plattenfirmen‘. Nur 4 musikalisch höchst interessante Acetataufnahmen in schlechter Qualität haben überlebt – einen Teil davon kann man →hier hören).
Trotz anfänglich grosser Erfolge reichte das aber auf die Dauer nicht, um in der harten Konkurrenz des Musikgeschäftes zu bestehen.
Michael Krugman schreibt von Goñis 'unpredictable leadership', von dessen unberechenbarem Führungsstil. Fiorentino hielt es nicht lange aus - nach dessen Weggang tat Goñi sich mit dem Sänger Raúl Berón zusammen, der kurz zuvor (Ende August) mit Miguel Calo den Vals Jugando, jugando aufgenommen hatte. Die Zusammenarbeit mit Goñi muss für Béron ein ziemliches Glückspiel gewesen sein. Béron und Goñi hatten insgesamt nur 5 gemeinsame Auftritte, der letzte mit Béron war am 10. Dezember 1944. All seine Kollegen konnten sehen, dass Goñi Drogen nahm und sich zu Tode soff. Zunehmend ausgebrannt und krank zog sich Goñi in das Haus eines Freundes in Montevideo zurück. Bereits zwei Monate später verliess einer der fähigsten Pianisten des Tango endgültig die Bühne – Goñi starb mit nur 31 Jahren am 5. Februar 1945.
Francisco Fiorentino 1905 - 1955
Nach Goñis Weggang hatte sich Fiorentino ebenfalls entschlossen, Troilos Orchester zu verlassen. Die Motivation für diesen gewagten Alleingang bleibt im Dunkeln. Ob er seinen Kollegen Alberto Marino, der 1943 immer mehr Schallplattenaufnahmen machen konnte, als Konkurrenz empfand? Seine letzte Aufnahmen mit Troilo waren am 30. März 1944 (mit dem Tango Tabaco, dem Vals Temblando und der Milonga El Desafío (im Duett mit Alberto Marino). Seinen allerletzten Auftritt soll Fiorentino mit Troilos Orchester laut Krugman am 8. Juni gehabt haben (also überschneidend mit seinen Auftritten bei O. Goñi, wobei verschiedene Daten für den letzten gemeinsamen Auftritt genannt werden). Fiorentino wechselte danach, zusammen mit dem Violinisten Hugo Baralis, zu Orlando Goñis Orchester.
Fiorentinos erster Auftritt zusammen mit Orlando Goñi war bereits am 4. Juni in der Principe Jorge - Prince George Hall. Für Juni und Juli ‘44 verkündete ein grosses Inserat für das Palermo, dass Fiorentino und Goñi zusammen auftreten würden.
Bereits Ende August ‘44 war Fiorentino nicht mehr bei Goñi, denn Goñis mangelnde Führung und Disziplin waren belastend. Es gingen Gerüchte, dass Fiore wieder zu Troilo zurückkehren würde. Die Hoffnungen des Publikums bewahrheiteten sich nicht, Fiorentino beauftragte Astor Piazzolla mit der Leitung eines neu zusammengestellten Orchesters. Der erste Auftritt von Fiorentinos neuem Ensemble war bereits am 2. September ‘44. Dank der Bekanntheit Fiorentinos kam es kurz darauf zu einem Vertrag mit Radio Belgrano, bereits am 11. September hatten sie ihre erste Sendung. Nach dem Weggang von Astor Piazzolla übernahm Ismael Spitalnik die Leitung von Fiorentinos Orchester.
Im Gegensatz zu Goñi konnte Fiorentinos Orchester bei Odeon 1945 und ‘46 einige Platten aufnehmen. Wir haben das Glück, dass einige dieser Aufnahmen in guter Qualität von TangoTunes transferiert und neu herausgebracht wurden. Mir gefällt z.B. →María, ein Stück, das im gleichen Jahr auch von Troilo mit Alberto Marino aufgenommen wurde.
Die grosse Magie, die zusammen mit Pichuco entstanden war, kam jedoch nicht mehr zustande.
Auch Francisco Fiorentino musste erkennen, dass ein Bestehen im harten Musikgeschäft mehr verlangte als nur grosses Talent. 1948 löste er sein Orchester auf.
Später sang Fiorentino mit verschiedenen Orchestern. Nachdem sich José Basso von Troilo getrennt und ein eigenes Orchester zusammengestellt hatte, stiess Fiorentino im Mai 1949 zu ihm. Schallplattenaufnahmen folgten im gleichen Jahr, darunter die geniale (und m.M. beste) Umsetzung von →Tabernero (siehe auch Besprechung bei Rodriguez). In dieser Interpretation setzte Fiorentino das Bild des Betrunkenen unübertrefflich um. 1950 wechselte er zum Orchester von Alberto Mancione. 1951 zog er nach Montevideo und trat dem Orchester von Puglia-Pedroza bei, mit dem er im November 1951 seine letzten drei Schallplattenaufnahmen machte. An die grossen Erfolge wie zur Zeit bei Troilo konnte er jedoch nicht mehr anknüpfen.
Als Fiorentino nach Buenos Aires zurückkehrte, konnte er nur bei kleinen Gelegenheiten und ohne festes Engagement auftreten – eine bedrückende Situation für jemanden, der früher ein gefeiertes, allseits bekanntes Idol war.
Eines Tages bekam er einen Anruf von Troilo, ob er sich vorstellen könnte, mit ihm ein paar Aufnahmen zu machen? Das war die Nachricht, auf die Fiorentino gehofft hatte! Zurück zu Troilo! Seinen Freunden erzählte er voller Freude von dieser hoffnungsvollen Perspektive. Jedoch musste er zusammen mit seinem Freund Roberto ‘Chato‘ Flores noch eine Verpflichtung erfüllen, einen Auftritt in der Provinz. Ihr letzter Auftritt war am 10. September ‘55 in einem kleinen Dorf namens Tres Arboles. Auf der Rückfahrt nach Mendoza nahmen sie eine falsche Strecke – die Fahrt endete in einer Tragödie: mitten in der Nacht auf einer unbefestigten Strasse kam der Wagen von der Strasse ab. Fiorentino wurde aus dem Auto geschleudert und fiel ohnmächtig mit dem Gesicht nach unten in einen Entwässerungsgraben – und ertrank auf dem Bauch liegend im seichten Wasser. Im Krankenhaus konnte man nur seinen Tod feststellen. Das war ein harter Schlag für seinen Freund Roberto Flores.
Ein Jahr später ehrte Troilo seinen Sänger Francisco Fiorentino mit den Worten:
»Seine Anpassungsfähigkeit erlaubte es ihm, sich in den Geist eines jeden Liedes hineinzuversetzen, es umzuwandeln und in einer perfekten Interpretation des Textes in einen Lobgesang zu erheben. — Su ductilidad le permitía compenetrarse en el espiritu mismo de cada canción, transformándose y elevándose en un ruego en interpretación acabada de la letra.«
Astor Piazzolla (1921 - 1992) und seine Zeit bei Troilo
Astor Piazzolla wuchs in New York auf, bis seine Eltern sich entschlossen, 1938 nach Buenos Aires zurückzukehren. Piazzolla war in den jungen Jahren ein übermütiger Schelm, der gerne Streiche spielte. 1939 spielte er Bandoneon im Orchester von Francisco Lauro. Dort präparierte er eines Tages Lauros Bandoneon, entfernte alle Schrauben, und sagte ihm dann, dass ein Kunde den Tango Loca verlangt hatte, bei dem man das Bandoneon weit öffnen muss. Es kam, wie es kommen musste, an besagter Stelle fiel Lauros Bandoneon auseinander. Das brachte das Fass zum Überlaufen – Lauro feuerte den Streichespieler.
So wie der junge Troilo ein gutes Jahrzehnt zuvor die Auftritte des Sextetts der Brüder de Caro bewundert hatte, so verfolgte der junge Astor um 1939 die Auftritte von Troilo. Wann immer er konnte, ging Piazzolla ins Germinal und hörte dem Orchester von Troilo zu, das dort von 15 – 21 Uhr spielte. Durch das viele Zuhören konnte er die Stücke bald auswendig.
In einer Dramatisierung hört sich seine Begegnung mit Troilo so an: »1939 sagte Pichuco zu Hugo Baralis, als sein zweiter Bandoneonist wegen Krankheit ausfiel: “Ich brauche einen Bandoneonisten.“ Baralis überlegte. Schliesslich fiel ihm ein, dass er sich kürzlich mit einem jungen Mann unterhalten hatte, der jedesmal kam, wenn das Orchester im Germinal spielte. Dieser junge Mann, gerade mal achtzehn Jahre alt, war Bandoneonist und ein grosser Bewunderer von Troilo. Nachdem der junge Mann sich mal wieder eine Orchesterprobe angehört hatte, sagte Troilo: “Gebt dem Jungen doch mal ein Bandoneon. Spiel was für uns, Kleiner.“ Der junge Mann ergriff das Bandoneon und spielte Rhapsody in Blue von Gershwin. Nachdem er geendet hatte, stellte Orlando Goñi sein Whiskyglas auf dem Flügel ab und sagte: “Jungchen, heb dir das lieber für die Amis auf.“ Troilo schaute ihn skeptisch an, wiegte den Kopf hin und her und meinte: “Gut, jetzt spiel mal einen Tango.“ Überrascht, wie gut der junge Mann das Instrument beherrschte, fragte Troilo ihn, ob er sich zutraue, die zweite Bandoneonstimme einzustudieren. — “Die kenne ich schon auswendig“, antwortete der junge Mann. — “Besitzt du einen blauen Anzug?“ fragte Troilo. – “Klar.“ – “Gut, dann spielst du ab morgen mit.«
So die Begegnung in der Dramatisierung von Giullermo Monti. In Wirklichkeit war es gemäss anderen Schilderungen eher so, dass AP zuerst den Tango spielte und erst als Zugabe das Gershwin-Stück. Und Piazzolla war nach Hause geeilt und hatte sein eigenes Bandoneon mitgebracht.
Astor Piazzolla war zwischen 1939 und 1944 Mitglied von Troilos Orchesters.
Als Piazzollas Vater erfuhr, dass Troilo seinen Sohn ins Orchester aufgenommen hatte, reiste er aus dem 420 km entfernten Mar del Plata an. Zur Feier des Tages lud Troilos Mutter Doña Felisa alle zu einem Festessen ein. Als Astors Vater sich unter Tränen verabschiedete, bat er Troilo: »Passen Sie gut auf den Jungen auf, schliesslich ist er erst achtzehn, und Sie kennen ja die Nacht, die Kabaretts, die Frauen und die Spielhöllen.« – »Ich kümmere mich um den Jungen«, versprach Troilo. Nachdem der Vater gegangen war, unterhielt Astor sich noch eine Weile mit Troilo, denn an dem Abend hatte das Orchester keinen Auftritt. Plötzlich sagte der Junge: »Was halten Sie davon, wenn wir noch ins El Doble Tres gehen? Vielleicht haben wir ja heute richtig Glück beim Zocken.« Troilo antwortete kopfschüttelnd: »Du bist mir ja ein rechter Teufel.« Sie verliessen den Ort am nächsten Morgen um fünf – beide mit leeren Taschen.
Astor war ein unruhiger, verspielter Geist. Troilo verpasste ihm nicht von ungefähr den Spitznamen ‘Gato’ (Katze). Piazzolla konnte es nicht lassen und spielte auch bei Pichuco seine Streiche. Er trieb ihn in den Wahnsinn, indem er während der Aufführungen komische Geräusche machte. Er genoss es zu sehen, wie ‘El Gordo‘ sich umdrehte und das Orchester anstarrte, um den Schuldigen zu finden. Als Troilo drohte, ihn zu feuern, musste er schliesslich aufhören – nur dass daraufhin die anderen Orchestermitglieder anfingen, Geräusche zu machen und so taten, als wäre er es gewesen…
Nachdem Orlando Goñi das Orchester verlassen hatte, wurden die Arrangeure für Troilo wichtiger. Auch Astor, der sich permanent in klassischer Komposition weiterbildete und ab 1940 nach einem Besuch von Arthur Rubinstein bei dem argentinischen Komponisten Alberto Ginastera studierte, arrangierte ab 1942 ein paar Kompositionen für Troilos Orchester, wie Uno (1943 mit Marino), Chiqué oder →Inspiración (1943), letzteres mit einem Cello-Solo von Alfredo Citro und einem darauffolgenden Bandoneonsolo von Troilo. (Leider sind alle Troilo-Versionen auf YT klanglich schlecht). Laut Todotango soll AP sogar gelegentlich als Ersatz für den fehlenden Goñi am Klavier eingesprungen sein.
Bei den Arrangeuren war Troilos Radiergummi gefürchtet, mit dem er das ›zu viel‹ wegradierte, damit die Arrangements innerhalb seines Stiles blieben.
Als Piazzolla einmal gefragt wurde, wie er sich mit Troilo verstanden habe, antwortete er mit Humor: »Troilo hat sich nur aufgeregt, wenn ich Arrangements schrieb. Die Arrangements haben wir gemeinsam erarbeitet – ich schrieb, und er radierte wieder aus. Er meinte immer: »Du kannst gern die Stücke arrangieren, aber verlang kein komisches Zeug von mir. Vergiss nicht, dass wir für die Tänzer spielen.« Worauf Piazzolla antwortete: »Die Leute wollen nicht immer tanzen, Pichuco.« Einmal, so Piazzolla, hatten sie während des Karnevals einen Auftritt in der Milonga des Clubs Boca Juniors; sie spielten die von ihm arrangierten Stücke Inspiración und Chiqué, und auf einmal hörten die Leute auf zu tanzen und kamen ganz dicht an die Bühne, um zuzuhören. Woraufhin Piazzolla Troilo anschaute und flachste: »Hab ich’s dir nicht gesagt? Die Leute wollen nicht immer tanzen!« – »Ist mir klar«, antwortete Troilo. »Aber verlang kein komisches Zeug von mir.«
In meinen Ohren haben APs Arrangements bereits zur Zeit, als er noch bei Troilo war – trotz Troilos Radiergummi– etwas Elaboriertes, das der Tanzbarkeit der Musik nicht zuträglich war. In seiner besten Zeit hatte die Musik von Troilos Orchester, trotz des komplexen Rhythmus‘ und der vielen musikalischen Einfälle, in meinen Ohren etwas die Tänzer unmittelbar Ansprechendes. Als Piazzolla sein eigenes Orchester von 1946-49 in Buenos Aires führte und er seinen eigenen Stil, ungehindert von Troilos Radiergummi, ausleben konnte, setzte sich dieser Trend zu mehr ›Verspieltheit‹ oder Kompliziertheit und weniger Tanzbarkeit fort.
In Piazzollas Ansicht bremsten die Tänzer die musikalische Weiterentwicklung des Tango. Hör hinein in Stücke wie das von ihm komponierte Se armó (1947), das sich im Stil an den von Pugliese annähert, oder den de Caro-Laurenz-Klassiker Tierra querida (1948), das für mich mit einigen Verspieltheiten daherkommt, die aber die ursprüngliche Klarheit der Komposition verdecken. Ein interessanter Vergleich ist seine Version von →Inspiración (1947) mit der von Troilo 1943. Piazzollas Interpretation kommt mit weniger Klarheit daher, dafür mit Klangvariationen (schräge Harmonien bereits ab 0.13) und einem sehr verspielten Klavierpart und einer Schluchzgeige (um Minute 2). Die Troilo-Interpretation ist (nicht nur) für mich der klare Gewinner.
Piazzolla nahm 1957 eine weitere Version von → Inspiración auf und verdeutlichte damit, was er unter der “musikalischen Weiterentwicklung des Tango“ verstand. Auch wenn sie musikalisch interessant ist, hat diese orchestrale Version nur noch wenig mit tanzbarem Tango zu tun. In den folgenden Jahren hatten seine Kompositionen bis auf sehr wenige Ausnahmen die Tänzer ganz aus den Augen verloren.
Hier ist nicht der Platz für eine längere Piazzolla-Biographie, aber der weitere Werdegang sei kurz skizziert. Perón hatte den Tango für seine Zwecke benutzt und politisch vereinnahmt. Piazzolla hatte sich offen gegen den Peronismus ausgesprochen und empfand die peronistischen Gesetze als erstickend. Er löste sein Orchester 1949 auf, nachdem er sich geweigert hatte, bei einer verschwenderischen Benefiz-Veranstaltung von Evita Perón aufzuspielen. Das verhalf ihm zwar zu gewissen Sympathien bei den nachfolgenden Machthabern, die sich nach Perón an die Spitze des Landes geputscht hatten, aber diese waren ihm genauso zuwider.
1954 zog er nach Frankreich, dort entwickelte er nach der Begegnung mit Nadia Boulanger seinen eigenen Stil, der später unter dem Begriff ›Tango Nuevo‹ bekannt und der vor allem von Jazzliebhabern und Intellektuellen geschätzt wurde. In Argentinien waren seine Musik weitaus weniger beliebt.
Astor Piazzolla blieb seinem Förderer verbunden. 1970 kamen Troilo und Piazzolla zusammen und nahmen die Titel El motivo und → Volver als Bandoneon-Duo auf. AP über Troilo: »Er war unvergleichlich, nur zwei Noten spielend.« Als Piazzolla von Troilos Tod hörte, war er schockiert und widmete seinem Mentor 1975 die Suite troileana.
»Als ich nach Buenos Aires zurückkehrte, eröffnete ich mit meinem Ensemble ein schönes Lokal namens La Ciudad. Eines Abends kam Zita (Troilos Frau) und gab mir eines der Bandoneons, die ‘El Gordo‘ hatte. Das war eines der schönsten Gefühle meines Lebens«, erzählte Piazzolla. Aus Dankbarkeit schrieb er die Komposition Tristeza de un Doble A (Doble A bezieht sich auf die Bandoneons aus dem Hause Alfred Arnold mit dem Firmenkürzel AA, die bei den Tango-Bandoneonisten am beliebtesten waren). Piazzolla nahm dieses Stück mehrmals auf.
Bailemos Tango !
Tango-DJ Michael KI © 05/2023
Quellen Astor Piazzolla:
– Azzi, M.S.: »The Tango, Peronism, and Astor Piazzolla during the 1940s and '50s«
– Guillermo Monti: www.meer.com/de/65775-anibal-troilo-das-beste-bandoneon-von-buenos-aires
– www.todotango.com/english/artists/biography/44/Astor-Piazzolla/ (Julio Nudler)
– www.tangoandchaos.org/chapt_4music/4encopao.htm
Quellen Orlando Goñi und Francisco Firentino:
– www.todotango.com/english/artists/biography/725/Orlando-Goni/ (Néstor Pinson)
– www.tangodecoder.com/2016/12/orlando-goñi-sympathy-for-a-devil-introduction.html
– www.tangodecoder.com/2015/12/fiorentinos-farewell-unfolds-march-june-1944-1.html (beide Michael Krugman)
– www.todotango.com/english/artists/biography/149/Francisco-Fiorentino/